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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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heit. in Zustände, die wir nur zu sehr in frühere Jahrhunderte zurückzuver¬
weisen geneigt sind, die aber in Wahrheit noch manche der jetzt Lebenden mit
erlebt haben. Nur so ist eine vollkommen richtige Würdigung der vorwärts¬
schreitenden tüchtigen Schaffenskraft unserer Tage möglich.

Ein alter, noch jetzt lebender preußischer Strafrichter erzählt uns fol¬
gende Historie:

In der Mitte der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts wurde die Um¬
gegend von Breslau durch zahlreiche Brandstiftungen in die äußerste Aufre¬
gung versetzt. Eine Masse einzelner Gehöfte, und über dreißig ganze Dörfer
wurden in einer verhältnißmäßig kurzen Zeit vollständig in Asche gelegt. Die
Brandlegung erfolgte stets während der Nacht; die Löschanstalten waren da¬
mals noch sehr mangelhaft; viele Menschen und ganze Herden von Vieh ka¬
men in den Flammen um. Die Criminalpolizei war in voller Bewegung,
ohne Erfolg. Sie ermittelte nur so viel, daß muthmaßlich ein und dieselbe
Person all diese schweren Verbrechen verübt habe, alle in gleich roher und
brutaler Mißachtung von Hab, Gut, Glück und Leben ihrer Mitbürger.
Ueberall erzählten Bauernmägde der niedergebrannten Dörfer und Höfe, es
habe in der Brautnacht ein fremder-Mann ans Fenster geklopft und Einlaß
begehrt, und als dieser selbstverständlich verweigert ward, habe der Fremde
eine wüste Lache aufgeschlagen, und gedroht: "Ich werde Dich schon heraus¬
treiben." Gleich darauf sei denn das Gehöfte, das Dorf in hellen Flammen
gestanden. Einige der Mädchen wollten den Fremden auch gesehen haben; sie
beschrieben ihn übereinstimmend als einen gefährlich aussehenden, bärtigen
Vagabunden von hervorragender Größe und Stärke. Diese Beschreibung
paßte genau auf einen jüngst nach langjähriger Kettenstrafe entlassenen Ver¬
brecher. Zwei bis drei der Mägde endlich hatten sogar die Ausführung der
Drohung gesehen.

Endlich, nachdem 33 Ortschaften in Asche gesunken waren, und die ganze
Landbevölkerung um Breslau sich gegen diesen gemeinsamen Feind verbündet
hatte, gelang es, den Verbrecher auf frischer That zu ertappen und gefangen
in Breslau einzuliefern. Ich hatte die Ehre als Inquirent des Bösewichts
eingesetzt zu werden. Die Untersuchung dauerte des massenhaften Materials
wegen und in den schwerfälligen, schriftlichen Beweisformen des alten gehei¬
men Verfahrens mehrere Jahre, obwohl der Mensch alles, was man ihm bei¬
maß, bereitwilligst eingestand. Lange vor dem Ende der Untersuchung wurde
ich als Referendar an eine Mittelinstanz versetzt. Auch hier war ich bereits
geraume Zeit angestellt, als mir eines Tages der Chef mit besonders feier¬
licher Miene "eine große Capitalsache" einhändigte, aus welcher ich dem hoch¬
weisen Spruchcollegio, an dessen Sitzungen ich als ganz kleines Licht still¬
schweigend theilnehmen durfte, Bericht erstatten sollte. Diese "Capitalsache"


heit. in Zustände, die wir nur zu sehr in frühere Jahrhunderte zurückzuver¬
weisen geneigt sind, die aber in Wahrheit noch manche der jetzt Lebenden mit
erlebt haben. Nur so ist eine vollkommen richtige Würdigung der vorwärts¬
schreitenden tüchtigen Schaffenskraft unserer Tage möglich.

Ein alter, noch jetzt lebender preußischer Strafrichter erzählt uns fol¬
gende Historie:

In der Mitte der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts wurde die Um¬
gegend von Breslau durch zahlreiche Brandstiftungen in die äußerste Aufre¬
gung versetzt. Eine Masse einzelner Gehöfte, und über dreißig ganze Dörfer
wurden in einer verhältnißmäßig kurzen Zeit vollständig in Asche gelegt. Die
Brandlegung erfolgte stets während der Nacht; die Löschanstalten waren da¬
mals noch sehr mangelhaft; viele Menschen und ganze Herden von Vieh ka¬
men in den Flammen um. Die Criminalpolizei war in voller Bewegung,
ohne Erfolg. Sie ermittelte nur so viel, daß muthmaßlich ein und dieselbe
Person all diese schweren Verbrechen verübt habe, alle in gleich roher und
brutaler Mißachtung von Hab, Gut, Glück und Leben ihrer Mitbürger.
Ueberall erzählten Bauernmägde der niedergebrannten Dörfer und Höfe, es
habe in der Brautnacht ein fremder-Mann ans Fenster geklopft und Einlaß
begehrt, und als dieser selbstverständlich verweigert ward, habe der Fremde
eine wüste Lache aufgeschlagen, und gedroht: „Ich werde Dich schon heraus¬
treiben." Gleich darauf sei denn das Gehöfte, das Dorf in hellen Flammen
gestanden. Einige der Mädchen wollten den Fremden auch gesehen haben; sie
beschrieben ihn übereinstimmend als einen gefährlich aussehenden, bärtigen
Vagabunden von hervorragender Größe und Stärke. Diese Beschreibung
paßte genau auf einen jüngst nach langjähriger Kettenstrafe entlassenen Ver¬
brecher. Zwei bis drei der Mägde endlich hatten sogar die Ausführung der
Drohung gesehen.

Endlich, nachdem 33 Ortschaften in Asche gesunken waren, und die ganze
Landbevölkerung um Breslau sich gegen diesen gemeinsamen Feind verbündet
hatte, gelang es, den Verbrecher auf frischer That zu ertappen und gefangen
in Breslau einzuliefern. Ich hatte die Ehre als Inquirent des Bösewichts
eingesetzt zu werden. Die Untersuchung dauerte des massenhaften Materials
wegen und in den schwerfälligen, schriftlichen Beweisformen des alten gehei¬
men Verfahrens mehrere Jahre, obwohl der Mensch alles, was man ihm bei¬
maß, bereitwilligst eingestand. Lange vor dem Ende der Untersuchung wurde
ich als Referendar an eine Mittelinstanz versetzt. Auch hier war ich bereits
geraume Zeit angestellt, als mir eines Tages der Chef mit besonders feier¬
licher Miene „eine große Capitalsache" einhändigte, aus welcher ich dem hoch¬
weisen Spruchcollegio, an dessen Sitzungen ich als ganz kleines Licht still¬
schweigend theilnehmen durfte, Bericht erstatten sollte. Diese „Capitalsache"


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[0467] heit. in Zustände, die wir nur zu sehr in frühere Jahrhunderte zurückzuver¬ weisen geneigt sind, die aber in Wahrheit noch manche der jetzt Lebenden mit erlebt haben. Nur so ist eine vollkommen richtige Würdigung der vorwärts¬ schreitenden tüchtigen Schaffenskraft unserer Tage möglich. Ein alter, noch jetzt lebender preußischer Strafrichter erzählt uns fol¬ gende Historie: In der Mitte der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts wurde die Um¬ gegend von Breslau durch zahlreiche Brandstiftungen in die äußerste Aufre¬ gung versetzt. Eine Masse einzelner Gehöfte, und über dreißig ganze Dörfer wurden in einer verhältnißmäßig kurzen Zeit vollständig in Asche gelegt. Die Brandlegung erfolgte stets während der Nacht; die Löschanstalten waren da¬ mals noch sehr mangelhaft; viele Menschen und ganze Herden von Vieh ka¬ men in den Flammen um. Die Criminalpolizei war in voller Bewegung, ohne Erfolg. Sie ermittelte nur so viel, daß muthmaßlich ein und dieselbe Person all diese schweren Verbrechen verübt habe, alle in gleich roher und brutaler Mißachtung von Hab, Gut, Glück und Leben ihrer Mitbürger. Ueberall erzählten Bauernmägde der niedergebrannten Dörfer und Höfe, es habe in der Brautnacht ein fremder-Mann ans Fenster geklopft und Einlaß begehrt, und als dieser selbstverständlich verweigert ward, habe der Fremde eine wüste Lache aufgeschlagen, und gedroht: „Ich werde Dich schon heraus¬ treiben." Gleich darauf sei denn das Gehöfte, das Dorf in hellen Flammen gestanden. Einige der Mädchen wollten den Fremden auch gesehen haben; sie beschrieben ihn übereinstimmend als einen gefährlich aussehenden, bärtigen Vagabunden von hervorragender Größe und Stärke. Diese Beschreibung paßte genau auf einen jüngst nach langjähriger Kettenstrafe entlassenen Ver¬ brecher. Zwei bis drei der Mägde endlich hatten sogar die Ausführung der Drohung gesehen. Endlich, nachdem 33 Ortschaften in Asche gesunken waren, und die ganze Landbevölkerung um Breslau sich gegen diesen gemeinsamen Feind verbündet hatte, gelang es, den Verbrecher auf frischer That zu ertappen und gefangen in Breslau einzuliefern. Ich hatte die Ehre als Inquirent des Bösewichts eingesetzt zu werden. Die Untersuchung dauerte des massenhaften Materials wegen und in den schwerfälligen, schriftlichen Beweisformen des alten gehei¬ men Verfahrens mehrere Jahre, obwohl der Mensch alles, was man ihm bei¬ maß, bereitwilligst eingestand. Lange vor dem Ende der Untersuchung wurde ich als Referendar an eine Mittelinstanz versetzt. Auch hier war ich bereits geraume Zeit angestellt, als mir eines Tages der Chef mit besonders feier¬ licher Miene „eine große Capitalsache" einhändigte, aus welcher ich dem hoch¬ weisen Spruchcollegio, an dessen Sitzungen ich als ganz kleines Licht still¬ schweigend theilnehmen durfte, Bericht erstatten sollte. Diese „Capitalsache"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/467>, abgerufen am 29.06.2024.