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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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viele Militärs und kein Mitglied wußte den Unterschied zwischen einem Ko¬
saken und einem Russen anzugeben. Schüler, die Prämien bekommen hatten,
sollten in Geographie unter sich concurriren, aber kein einziger unter ihnen
wußte den größten Strom anzugeben, denn bei Gautier, dessen Lehrbuch all¬
gemein befolgt wird, stehen mehrere als solche angegeben. Da werden die
Franzosen denn ewig die Böhmen mit den Zigeunern verwechseln. Und selbst
das historisch-geographische Lexikon von Bailly wimmelt von Fehlern. Die
Wandalen gelten dort für Slaven.

Seit Chaptal und Moreau de Jonnes haben die Franzosen keine Stati¬
stiker. Die Regierung sammelt und gibt allein die nöthigen Materialien über
Frankreichs Statistik aus, so daß sie allein gegenwärtig die Frage beantwor¬
ten könnte, wie viel die Bifurcation in den Schulen genützt und wie viel sie
Handelsleute und Fabrikanten gebildet hat; weiter: wie groß die Zahl der
jungen Leute war, die ihre Zeit verloren haben, Classiker zu lernen; wie viel
Advocaten und Aerzte ohne Praxis es gibt?

Wie soll aber ohne Kenntniß der Geographie an eine vergleichende Sta¬
tistik gedacht werden? Und doch wäre es gerade jetzt gut zu wissen, wie viel
Geld in den verschiedenen Staaten im Umlauf ist und wie viel eigentlich sein
sollte! Vier Milliarden hätte Frankreich zahlen können, aber fünf Milliarden
wird es kaum im Stande sein zu liefern.'

Wie soll weiter das Staatsrecht gelehrt werden in einem Lande, wo man
die Grenzen der Staaten nicht kennt. Ist es von den Professoren dieses
Faches nicht verlorene Mühe, einen Vortrag vor jungen Leuten zu halten, die
dazu nicht vorbereitet sind. Nicht einmal auf die Universität hätte man Stu¬
denten aufnehmen sollen, die nicht die Geographie kennen. Aber diese Uni¬
versitäten sind in Frankreich erst noch zu schaffen. Die Geistlichkeit scheint
dem obligatorischen Unterricht entgegen zu sein und will nicht einsehen, daß
unter den Leuten, die nicht schreiben und lesen können, in Paris wie in Tou-
lon und Brest, die meisten sind, die nicht an Gott glauben.

Die Kaiserin Eugenie hatte der geographischen Gesellschaft in Paris eine
jährliche Hilfe von zehntausend Francs zugesagt. Diese Unterstützung ist mit
dem Falle des Kaisertums eingegangen. Der Vice-Präsident der Gesellschaft
H. Vivisn as Lg-me-Uartin, gibt jährlich Aöogi'avkMis bei Hachette
heraus, bei dem I/a,um6e seisnMizuö von Figuier und 1/g.nnvs InKtoriMiz
von Zeller gleichfalls herauskommt. Dies ist ein sehr annehmbarer Beitrag
zu Uebersichten dieser Art. -- H. Levasseur, Mitglied der politisch-sittlichen
Akademie, ist von Jules Simon zum Professor der Geschichte der Oekonomie
im <HoII6se 6" Kranes ernannt worden. Er wäre aber gerade der Mann
gewesen, um ein Katheder der Geographie auszufüllen: das Fach, über welches
er vorzutragen hat, wäre in einer Handelsschule eben so gut an der Stelle.


Grenzboten III. 1872. S9

viele Militärs und kein Mitglied wußte den Unterschied zwischen einem Ko¬
saken und einem Russen anzugeben. Schüler, die Prämien bekommen hatten,
sollten in Geographie unter sich concurriren, aber kein einziger unter ihnen
wußte den größten Strom anzugeben, denn bei Gautier, dessen Lehrbuch all¬
gemein befolgt wird, stehen mehrere als solche angegeben. Da werden die
Franzosen denn ewig die Böhmen mit den Zigeunern verwechseln. Und selbst
das historisch-geographische Lexikon von Bailly wimmelt von Fehlern. Die
Wandalen gelten dort für Slaven.

Seit Chaptal und Moreau de Jonnes haben die Franzosen keine Stati¬
stiker. Die Regierung sammelt und gibt allein die nöthigen Materialien über
Frankreichs Statistik aus, so daß sie allein gegenwärtig die Frage beantwor¬
ten könnte, wie viel die Bifurcation in den Schulen genützt und wie viel sie
Handelsleute und Fabrikanten gebildet hat; weiter: wie groß die Zahl der
jungen Leute war, die ihre Zeit verloren haben, Classiker zu lernen; wie viel
Advocaten und Aerzte ohne Praxis es gibt?

Wie soll aber ohne Kenntniß der Geographie an eine vergleichende Sta¬
tistik gedacht werden? Und doch wäre es gerade jetzt gut zu wissen, wie viel
Geld in den verschiedenen Staaten im Umlauf ist und wie viel eigentlich sein
sollte! Vier Milliarden hätte Frankreich zahlen können, aber fünf Milliarden
wird es kaum im Stande sein zu liefern.'

Wie soll weiter das Staatsrecht gelehrt werden in einem Lande, wo man
die Grenzen der Staaten nicht kennt. Ist es von den Professoren dieses
Faches nicht verlorene Mühe, einen Vortrag vor jungen Leuten zu halten, die
dazu nicht vorbereitet sind. Nicht einmal auf die Universität hätte man Stu¬
denten aufnehmen sollen, die nicht die Geographie kennen. Aber diese Uni¬
versitäten sind in Frankreich erst noch zu schaffen. Die Geistlichkeit scheint
dem obligatorischen Unterricht entgegen zu sein und will nicht einsehen, daß
unter den Leuten, die nicht schreiben und lesen können, in Paris wie in Tou-
lon und Brest, die meisten sind, die nicht an Gott glauben.

Die Kaiserin Eugenie hatte der geographischen Gesellschaft in Paris eine
jährliche Hilfe von zehntausend Francs zugesagt. Diese Unterstützung ist mit
dem Falle des Kaisertums eingegangen. Der Vice-Präsident der Gesellschaft
H. Vivisn as Lg-me-Uartin, gibt jährlich Aöogi'avkMis bei Hachette
heraus, bei dem I/a,um6e seisnMizuö von Figuier und 1/g.nnvs InKtoriMiz
von Zeller gleichfalls herauskommt. Dies ist ein sehr annehmbarer Beitrag
zu Uebersichten dieser Art. — H. Levasseur, Mitglied der politisch-sittlichen
Akademie, ist von Jules Simon zum Professor der Geschichte der Oekonomie
im <HoII6se 6« Kranes ernannt worden. Er wäre aber gerade der Mann
gewesen, um ein Katheder der Geographie auszufüllen: das Fach, über welches
er vorzutragen hat, wäre in einer Handelsschule eben so gut an der Stelle.


Grenzboten III. 1872. S9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/465>, abgerufen am 29.06.2024.