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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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blauen Kittel unentdeckt einhergehen. Dieser Aufstand, der athem merkwürdiges
Beispiel der Macht dasteht, welche Napoleon's unermüdete Beharr¬
lichkeit über die Menschen ausübte, ein Aufstand, den das Volk ohne
Begeisterung, gegen Willen und Neigung, dennoch ausführte, nachdem
es ihn erst für unmöglich gehalten hatte, erstreckte sich von Lyon
bis in die Picardie, vor unsern Heeren, auf ihren Seiten, und
vorzüglich in ihrem Rücken."

Diese Schilderung des Volksaufstandes von 1814 ist doppelt interessant,
wenn man sich dabei des Jahres 1871 erinnert. Die Verhältnisse des Franc-
tireurwesens, des Verhaltens der Gemeinden u. s. w. sind sich in so hohem
Maße ähnlich, daß, wer die Data nicht kennte und an Stelle des Namens
Napoleon's den von Gambetta setzte, glauben dürfte, eine Schilderung aus
dem letzten Kriege zu lesen.

Für Napoleon hat der Volksaufstand eine verhängnißvolle Folge gehabt:
er erzeugte ihm jene Illusion, die nach den verlorenen Schlachten von Laon
und Urals sur Aube sein strategisches Verhalten bestimmte. Denn statt
von Urals aus auf Paris zurückzugehen und mit allen noch vorhandenen
Kräften seine Hauptstadt zu decken, wich er nach Osten aus, um im Bunde
mit dem aufflammenden Volkskriege die Verbindungen und den Rücken der
Verbündeten zu bedrohen. Dieser Entschluß beruhte auf einer dreifachen Täu¬
schung. Erstlich wähnte er, oder gab doch vor es zu glauben, daß der Ver¬
lust von Paris nicht entscheidend sei. "Das Pariser Geschwätz," schrieb
er noch am 14. März dem Könige Joseph, seinem Stellvertreter in der Haupt¬
stadt, "kümmert mich nicht. Die Pariser bilden nur einen Theil des franzö¬
sischen Volkes, und so lange ich lebe, werde ich überall Meister in Frank¬
reich sein! Ich bin heute noch der Herr wie bei Austerlitz!" -- Zweitens
überschätzte Napoleon in wunderbarer Verblendung die Macht der befohlenen
1co6"z en wasse ganz außerordentlich, und drittens rechnete er mit voller Sicherheit
darauf, daß die Verbündeten ihn nicht in ihrem Rücken ertragen würden/ Er
glaubte es nicht, daß Schwarzenberg sich erkühnen könnte, ihn zu ignoriren
und wirklich auf Paris zu marschiren; Cavalleriemassen, die ihm nachfolgten,
täuschten ihn daher leicht; und als er endlich wirklich die Lage der Dinge
begriff, als er erfuhr, daß sich der Congreß von Chatillon aufgelöst, daß Mac¬
donald und Mortier bei Mre Champenoise geschlagen seien, da setzte er sich
zwar in Eilmärschen nach Westen in Bewegung; aber er kam zu spät: Paris
war schon in den Händen der Verbündeten.

Die Verfassung der Armee Napoleon's bei dieser Diversion im Osten
Frankreichs ist sehr charakteristisch. Schon in Se. Dizier, wo Coulaincourt
mit der Nachricht vom Scheitern des Friedenscongresses eintraf, zeigten die
Generale eine bisher unerhörte Haltung. Während des ganzen Feldzugs


blauen Kittel unentdeckt einhergehen. Dieser Aufstand, der athem merkwürdiges
Beispiel der Macht dasteht, welche Napoleon's unermüdete Beharr¬
lichkeit über die Menschen ausübte, ein Aufstand, den das Volk ohne
Begeisterung, gegen Willen und Neigung, dennoch ausführte, nachdem
es ihn erst für unmöglich gehalten hatte, erstreckte sich von Lyon
bis in die Picardie, vor unsern Heeren, auf ihren Seiten, und
vorzüglich in ihrem Rücken."

Diese Schilderung des Volksaufstandes von 1814 ist doppelt interessant,
wenn man sich dabei des Jahres 1871 erinnert. Die Verhältnisse des Franc-
tireurwesens, des Verhaltens der Gemeinden u. s. w. sind sich in so hohem
Maße ähnlich, daß, wer die Data nicht kennte und an Stelle des Namens
Napoleon's den von Gambetta setzte, glauben dürfte, eine Schilderung aus
dem letzten Kriege zu lesen.

Für Napoleon hat der Volksaufstand eine verhängnißvolle Folge gehabt:
er erzeugte ihm jene Illusion, die nach den verlorenen Schlachten von Laon
und Urals sur Aube sein strategisches Verhalten bestimmte. Denn statt
von Urals aus auf Paris zurückzugehen und mit allen noch vorhandenen
Kräften seine Hauptstadt zu decken, wich er nach Osten aus, um im Bunde
mit dem aufflammenden Volkskriege die Verbindungen und den Rücken der
Verbündeten zu bedrohen. Dieser Entschluß beruhte auf einer dreifachen Täu¬
schung. Erstlich wähnte er, oder gab doch vor es zu glauben, daß der Ver¬
lust von Paris nicht entscheidend sei. „Das Pariser Geschwätz," schrieb
er noch am 14. März dem Könige Joseph, seinem Stellvertreter in der Haupt¬
stadt, „kümmert mich nicht. Die Pariser bilden nur einen Theil des franzö¬
sischen Volkes, und so lange ich lebe, werde ich überall Meister in Frank¬
reich sein! Ich bin heute noch der Herr wie bei Austerlitz!" — Zweitens
überschätzte Napoleon in wunderbarer Verblendung die Macht der befohlenen
1co6«z en wasse ganz außerordentlich, und drittens rechnete er mit voller Sicherheit
darauf, daß die Verbündeten ihn nicht in ihrem Rücken ertragen würden/ Er
glaubte es nicht, daß Schwarzenberg sich erkühnen könnte, ihn zu ignoriren
und wirklich auf Paris zu marschiren; Cavalleriemassen, die ihm nachfolgten,
täuschten ihn daher leicht; und als er endlich wirklich die Lage der Dinge
begriff, als er erfuhr, daß sich der Congreß von Chatillon aufgelöst, daß Mac¬
donald und Mortier bei Mre Champenoise geschlagen seien, da setzte er sich
zwar in Eilmärschen nach Westen in Bewegung; aber er kam zu spät: Paris
war schon in den Händen der Verbündeten.

Die Verfassung der Armee Napoleon's bei dieser Diversion im Osten
Frankreichs ist sehr charakteristisch. Schon in Se. Dizier, wo Coulaincourt
mit der Nachricht vom Scheitern des Friedenscongresses eintraf, zeigten die
Generale eine bisher unerhörte Haltung. Während des ganzen Feldzugs


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/372>, abgerufen am 22.07.2024.