Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

waren sie Anhänger des Friedens gewesen und ihre Ungeduld, nach jeder
durchkämpften Schlacht lebhafter und schärfer, war in den letzten Tagen, da
sie den unheimlichen Zug nach Osten antraten, aufs Höchste gestiegen. Der
Kaiser schien vom frevelhaftesten Leichtsinn ergriffen! Was hieß das, daß er
Paris den Rücken kehrte!? Zu Paris lagen ja ihre Paläste, ihre Schätze,
der ganze Erwerb ihrer thatenvollen, nimmerwiederkehrenden Jugendzeit; sie
hatten geglaubt, ihr Glück gemacht zu haben, und wenn sie auch das Meiste
aus den Händen des Kaisers empfangen: wer durfte es ihnen verdenken, daß
sie für seine Fehler, unter denen sie schon so lange litten, nicht auch mit ins
Verderben rennen wollten. Diese Stimmung saß ihnen schon im Herzen seit
dem russischen Feldzug; nie mehr hatten sie seitdem das begeisterte Vertrauen
auf den Kaiser gefunden, mit dem sie früher ihm gefolgt, wie er seinem
Stern. Sie wußten jetzt viel an seinen Anordnungen auszusetzen; sie waren
gelegentlich Bewunderer des Feindes geworden; sie fanden, seit Moskau sei
Napoleon erlahmt und das einst Erstaunliche werde nun oft, wie namentlich
jetzt dieser Zug nach Osten, zur erzwungenen Ausschweifung*). Die Umkehr
nach Paris beschwichtigte diese Stimmen nur für Augenblicke. Bald konnte
Jedermann, der gemeine Soldat selbst, berechnen, daß man zu spät kommen
würde, um die Stadt zu retten. "Tag und Nacht." ohne Brot, ohne Schuhe,
wurde bei schlechtem Wetter marschirt; überaus Viele blieben liegen; immer
mürrischer, immer verdrossener wurde die Schaar. So wenig widerstandsfähig
erschien das Heer, so sicher sein Untergang beim ersten Angriff, daß Macdo¬
nald dem Kaiser schriftlich vorschlug, Paris aufzugeben, sich nach Lyon zu
wenden und mit Augereau zu verbinden. "Wenn dann die Vorsehung unsere
letzte Stunde bestimmt hat, werden wir wenigstens mit Ehre fallen, anstatt
wie Elende zu enden, zerstreut, gefangen und geplündert von Kosacken." --
Mit Recht meint Bernhardi, daß ein solcher Rath an das Haupt einer fest¬
gewurzelten Dynastie, z. B. an Louis XIV. gerichtet, ganz am Platz gewesen
wäre: Napoleon aber stand und fiel mit Paris; darüber konnte sogar er selbst
sich nicht länger täuschen. -- Uebrigens war es auch für Macdonald's Vor¬
schlag schon zu spät. Schon war Lyon an die Oesterreicher verloren und
Augereau nach Süden gewichen.

Seinen Garden mit Courierpferden vorauseilend, begegnete Napoleon bei
Juvisy den Truppen, welche der Capitulation gemäß Paris verließen. "In
einem Zustande seltsamer Aufregung, die nichts Imposantes und Großes ge¬
habt zu haben scheint, wollte er Weiterreisen nach Paris, die Capitulation
brechen, das Volk aufbieten, den Kampf aufs Aeußerste fortsetzen." Mit ob-
seönen Worten beschuldigte er seinen Bruder Joseph der Feigheit, den Kriegs-



*) Ott a. a. O.

waren sie Anhänger des Friedens gewesen und ihre Ungeduld, nach jeder
durchkämpften Schlacht lebhafter und schärfer, war in den letzten Tagen, da
sie den unheimlichen Zug nach Osten antraten, aufs Höchste gestiegen. Der
Kaiser schien vom frevelhaftesten Leichtsinn ergriffen! Was hieß das, daß er
Paris den Rücken kehrte!? Zu Paris lagen ja ihre Paläste, ihre Schätze,
der ganze Erwerb ihrer thatenvollen, nimmerwiederkehrenden Jugendzeit; sie
hatten geglaubt, ihr Glück gemacht zu haben, und wenn sie auch das Meiste
aus den Händen des Kaisers empfangen: wer durfte es ihnen verdenken, daß
sie für seine Fehler, unter denen sie schon so lange litten, nicht auch mit ins
Verderben rennen wollten. Diese Stimmung saß ihnen schon im Herzen seit
dem russischen Feldzug; nie mehr hatten sie seitdem das begeisterte Vertrauen
auf den Kaiser gefunden, mit dem sie früher ihm gefolgt, wie er seinem
Stern. Sie wußten jetzt viel an seinen Anordnungen auszusetzen; sie waren
gelegentlich Bewunderer des Feindes geworden; sie fanden, seit Moskau sei
Napoleon erlahmt und das einst Erstaunliche werde nun oft, wie namentlich
jetzt dieser Zug nach Osten, zur erzwungenen Ausschweifung*). Die Umkehr
nach Paris beschwichtigte diese Stimmen nur für Augenblicke. Bald konnte
Jedermann, der gemeine Soldat selbst, berechnen, daß man zu spät kommen
würde, um die Stadt zu retten. „Tag und Nacht." ohne Brot, ohne Schuhe,
wurde bei schlechtem Wetter marschirt; überaus Viele blieben liegen; immer
mürrischer, immer verdrossener wurde die Schaar. So wenig widerstandsfähig
erschien das Heer, so sicher sein Untergang beim ersten Angriff, daß Macdo¬
nald dem Kaiser schriftlich vorschlug, Paris aufzugeben, sich nach Lyon zu
wenden und mit Augereau zu verbinden. „Wenn dann die Vorsehung unsere
letzte Stunde bestimmt hat, werden wir wenigstens mit Ehre fallen, anstatt
wie Elende zu enden, zerstreut, gefangen und geplündert von Kosacken." —
Mit Recht meint Bernhardi, daß ein solcher Rath an das Haupt einer fest¬
gewurzelten Dynastie, z. B. an Louis XIV. gerichtet, ganz am Platz gewesen
wäre: Napoleon aber stand und fiel mit Paris; darüber konnte sogar er selbst
sich nicht länger täuschen. — Uebrigens war es auch für Macdonald's Vor¬
schlag schon zu spät. Schon war Lyon an die Oesterreicher verloren und
Augereau nach Süden gewichen.

Seinen Garden mit Courierpferden vorauseilend, begegnete Napoleon bei
Juvisy den Truppen, welche der Capitulation gemäß Paris verließen. „In
einem Zustande seltsamer Aufregung, die nichts Imposantes und Großes ge¬
habt zu haben scheint, wollte er Weiterreisen nach Paris, die Capitulation
brechen, das Volk aufbieten, den Kampf aufs Aeußerste fortsetzen." Mit ob-
seönen Worten beschuldigte er seinen Bruder Joseph der Feigheit, den Kriegs-



*) Ott a. a. O.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0373" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128301"/>
          <p xml:id="ID_1259" prev="#ID_1258"> waren sie Anhänger des Friedens gewesen und ihre Ungeduld, nach jeder<lb/>
durchkämpften Schlacht lebhafter und schärfer, war in den letzten Tagen, da<lb/>
sie den unheimlichen Zug nach Osten antraten, aufs Höchste gestiegen. Der<lb/>
Kaiser schien vom frevelhaftesten Leichtsinn ergriffen! Was hieß das, daß er<lb/>
Paris den Rücken kehrte!? Zu Paris lagen ja ihre Paläste, ihre Schätze,<lb/>
der ganze Erwerb ihrer thatenvollen, nimmerwiederkehrenden Jugendzeit; sie<lb/>
hatten geglaubt, ihr Glück gemacht zu haben, und wenn sie auch das Meiste<lb/>
aus den Händen des Kaisers empfangen: wer durfte es ihnen verdenken, daß<lb/>
sie für seine Fehler, unter denen sie schon so lange litten, nicht auch mit ins<lb/>
Verderben rennen wollten. Diese Stimmung saß ihnen schon im Herzen seit<lb/>
dem russischen Feldzug; nie mehr hatten sie seitdem das begeisterte Vertrauen<lb/>
auf den Kaiser gefunden, mit dem sie früher ihm gefolgt, wie er seinem<lb/>
Stern. Sie wußten jetzt viel an seinen Anordnungen auszusetzen; sie waren<lb/>
gelegentlich Bewunderer des Feindes geworden; sie fanden, seit Moskau sei<lb/>
Napoleon erlahmt und das einst Erstaunliche werde nun oft, wie namentlich<lb/>
jetzt dieser Zug nach Osten, zur erzwungenen Ausschweifung*). Die Umkehr<lb/>
nach Paris beschwichtigte diese Stimmen nur für Augenblicke. Bald konnte<lb/>
Jedermann, der gemeine Soldat selbst, berechnen, daß man zu spät kommen<lb/>
würde, um die Stadt zu retten. &#x201E;Tag und Nacht." ohne Brot, ohne Schuhe,<lb/>
wurde bei schlechtem Wetter marschirt; überaus Viele blieben liegen; immer<lb/>
mürrischer, immer verdrossener wurde die Schaar. So wenig widerstandsfähig<lb/>
erschien das Heer, so sicher sein Untergang beim ersten Angriff, daß Macdo¬<lb/>
nald dem Kaiser schriftlich vorschlug, Paris aufzugeben, sich nach Lyon zu<lb/>
wenden und mit Augereau zu verbinden. &#x201E;Wenn dann die Vorsehung unsere<lb/>
letzte Stunde bestimmt hat, werden wir wenigstens mit Ehre fallen, anstatt<lb/>
wie Elende zu enden, zerstreut, gefangen und geplündert von Kosacken." &#x2014;<lb/>
Mit Recht meint Bernhardi, daß ein solcher Rath an das Haupt einer fest¬<lb/>
gewurzelten Dynastie, z. B. an Louis XIV. gerichtet, ganz am Platz gewesen<lb/>
wäre: Napoleon aber stand und fiel mit Paris; darüber konnte sogar er selbst<lb/>
sich nicht länger täuschen. &#x2014; Uebrigens war es auch für Macdonald's Vor¬<lb/>
schlag schon zu spät. Schon war Lyon an die Oesterreicher verloren und<lb/>
Augereau nach Süden gewichen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1260" next="#ID_1261"> Seinen Garden mit Courierpferden vorauseilend, begegnete Napoleon bei<lb/>
Juvisy den Truppen, welche der Capitulation gemäß Paris verließen. &#x201E;In<lb/>
einem Zustande seltsamer Aufregung, die nichts Imposantes und Großes ge¬<lb/>
habt zu haben scheint, wollte er Weiterreisen nach Paris, die Capitulation<lb/>
brechen, das Volk aufbieten, den Kampf aufs Aeußerste fortsetzen." Mit ob-<lb/>
seönen Worten beschuldigte er seinen Bruder Joseph der Feigheit, den Kriegs-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_104" place="foot"> *) Ott a. a. O.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0373] waren sie Anhänger des Friedens gewesen und ihre Ungeduld, nach jeder durchkämpften Schlacht lebhafter und schärfer, war in den letzten Tagen, da sie den unheimlichen Zug nach Osten antraten, aufs Höchste gestiegen. Der Kaiser schien vom frevelhaftesten Leichtsinn ergriffen! Was hieß das, daß er Paris den Rücken kehrte!? Zu Paris lagen ja ihre Paläste, ihre Schätze, der ganze Erwerb ihrer thatenvollen, nimmerwiederkehrenden Jugendzeit; sie hatten geglaubt, ihr Glück gemacht zu haben, und wenn sie auch das Meiste aus den Händen des Kaisers empfangen: wer durfte es ihnen verdenken, daß sie für seine Fehler, unter denen sie schon so lange litten, nicht auch mit ins Verderben rennen wollten. Diese Stimmung saß ihnen schon im Herzen seit dem russischen Feldzug; nie mehr hatten sie seitdem das begeisterte Vertrauen auf den Kaiser gefunden, mit dem sie früher ihm gefolgt, wie er seinem Stern. Sie wußten jetzt viel an seinen Anordnungen auszusetzen; sie waren gelegentlich Bewunderer des Feindes geworden; sie fanden, seit Moskau sei Napoleon erlahmt und das einst Erstaunliche werde nun oft, wie namentlich jetzt dieser Zug nach Osten, zur erzwungenen Ausschweifung*). Die Umkehr nach Paris beschwichtigte diese Stimmen nur für Augenblicke. Bald konnte Jedermann, der gemeine Soldat selbst, berechnen, daß man zu spät kommen würde, um die Stadt zu retten. „Tag und Nacht." ohne Brot, ohne Schuhe, wurde bei schlechtem Wetter marschirt; überaus Viele blieben liegen; immer mürrischer, immer verdrossener wurde die Schaar. So wenig widerstandsfähig erschien das Heer, so sicher sein Untergang beim ersten Angriff, daß Macdo¬ nald dem Kaiser schriftlich vorschlug, Paris aufzugeben, sich nach Lyon zu wenden und mit Augereau zu verbinden. „Wenn dann die Vorsehung unsere letzte Stunde bestimmt hat, werden wir wenigstens mit Ehre fallen, anstatt wie Elende zu enden, zerstreut, gefangen und geplündert von Kosacken." — Mit Recht meint Bernhardi, daß ein solcher Rath an das Haupt einer fest¬ gewurzelten Dynastie, z. B. an Louis XIV. gerichtet, ganz am Platz gewesen wäre: Napoleon aber stand und fiel mit Paris; darüber konnte sogar er selbst sich nicht länger täuschen. — Uebrigens war es auch für Macdonald's Vor¬ schlag schon zu spät. Schon war Lyon an die Oesterreicher verloren und Augereau nach Süden gewichen. Seinen Garden mit Courierpferden vorauseilend, begegnete Napoleon bei Juvisy den Truppen, welche der Capitulation gemäß Paris verließen. „In einem Zustande seltsamer Aufregung, die nichts Imposantes und Großes ge¬ habt zu haben scheint, wollte er Weiterreisen nach Paris, die Capitulation brechen, das Volk aufbieten, den Kampf aufs Aeußerste fortsetzen." Mit ob- seönen Worten beschuldigte er seinen Bruder Joseph der Feigheit, den Kriegs- *) Ott a. a. O.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/373
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/373>, abgerufen am 22.07.2024.