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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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aufzurufen; noch erstickte ein Gefühl von Scham und Trotz die Stimme der
Regierung.*) --

Dafür fuhr man fort, die gewohnten Mittel immer neuer Conscriptionen
anzuwenden und verfügte am 20. November abermals eine Aushebung von
26.000 Mann der Klassen von 1808 bis 1814 zur Completirung der im Ok¬
tober angeordneten Rekrutirung. -- Uebrigens ging die Aushebung ungemein
langsam und schlecht von Statten, ein Umstand, den man dem Lande und
dem Auslande gegenüber eifrig zu verbergen suchte. Von jedem neuen Häuf¬
chen, das der Kaiser vor den Tuilerien musterte, gaben die Zeitungen über¬
mäßige Nachrichten.

Desertion und Typhus lichteten unterdessen die Aufstellung am Rhein
von Tag zu Tag. Mitte November schon nennt sie ein Adjutant des Kriegs¬
ministers einen "Schleier aus Spinneweben." Wenn er nicht längst zerrissen
war, so trug daran die vorsichtig zurückhaltende, ja befangene Kriegführung
der Verbündeten die Schuld. Als am 2. December ein kleiner Vorstoß über
den Rhein geschah, schrieb Macdonald an den in Amsterdam commandirenden
General Molitor: "Wahrscheinlich wird der Feind den Durchbruch auf meh¬
reren Punkten dieser ungeheuren Linie versuchen. In diesem unglücklichen
Falle hält ihn nichts auf; er kann sich sofort an die Maas werfen, wo
kein Platz verproviantirt und besetzt ist. 0 ins. Mrie! Huels tristes et
äouloureux prösgMs!" -- Noch kam es nicht so schlimm. Endlich aber riß
der Schleier der Rheinfront von selbst und zwar auf dem äußersten linken
Flügel durch den in Folge von Bülow's Vormarsch beginnenden Aufstand der
Holländer, vor dem sich Molitor und nicht minder der nach ihm mit dem
Obercommando betraute General Decaen zurückziehn mußten. Antwerpen zu
halten, schien jetzt schon eine außerordentliche Aufgabe; und im Innersten er¬
schüttert richtete Decaen ein Schreiben an den Kriegsminister, welches ein
schlagendes Zeichen der Zeit war und in welchem es heißt: "8i I'Lmpöreur
xouvait r6unir toute ig. Kranes autour as lui, La N^esta eutöiiärgit crier
6e toutss xarts: Lire, äonnex-nous ig. Mix!"**)

Napoleon war weit davon entfernt, diese Stimmen zu hören. Inner¬
halb 15 Monaten hatte er die Aushebung von 1.327,000 Mann
decretirt; nun sollte auch noch die 1so6k <zu eng,ssL in Scene gesetzt
werden. Als Werkzeug dazu gedachte er den gesetzgebenden Körper zu be¬
nutzen, der ja ganz aus seinen Creaturen bestand und gewohnt war, seinen
leisesten Winken zu gehorchen. Diesmal aber täuschte sich Napoleon. Zu




-) Roussst- Si'Atlas armöe <1s 1813.
") Brief vom 15. December 1813- Als Decaen ihn schrieb, wußte er noch nicht, daß er
bereits in tiefste Ungnade gefallen sei.

aufzurufen; noch erstickte ein Gefühl von Scham und Trotz die Stimme der
Regierung.*) —

Dafür fuhr man fort, die gewohnten Mittel immer neuer Conscriptionen
anzuwenden und verfügte am 20. November abermals eine Aushebung von
26.000 Mann der Klassen von 1808 bis 1814 zur Completirung der im Ok¬
tober angeordneten Rekrutirung. — Uebrigens ging die Aushebung ungemein
langsam und schlecht von Statten, ein Umstand, den man dem Lande und
dem Auslande gegenüber eifrig zu verbergen suchte. Von jedem neuen Häuf¬
chen, das der Kaiser vor den Tuilerien musterte, gaben die Zeitungen über¬
mäßige Nachrichten.

Desertion und Typhus lichteten unterdessen die Aufstellung am Rhein
von Tag zu Tag. Mitte November schon nennt sie ein Adjutant des Kriegs¬
ministers einen „Schleier aus Spinneweben." Wenn er nicht längst zerrissen
war, so trug daran die vorsichtig zurückhaltende, ja befangene Kriegführung
der Verbündeten die Schuld. Als am 2. December ein kleiner Vorstoß über
den Rhein geschah, schrieb Macdonald an den in Amsterdam commandirenden
General Molitor: „Wahrscheinlich wird der Feind den Durchbruch auf meh¬
reren Punkten dieser ungeheuren Linie versuchen. In diesem unglücklichen
Falle hält ihn nichts auf; er kann sich sofort an die Maas werfen, wo
kein Platz verproviantirt und besetzt ist. 0 ins. Mrie! Huels tristes et
äouloureux prösgMs!" — Noch kam es nicht so schlimm. Endlich aber riß
der Schleier der Rheinfront von selbst und zwar auf dem äußersten linken
Flügel durch den in Folge von Bülow's Vormarsch beginnenden Aufstand der
Holländer, vor dem sich Molitor und nicht minder der nach ihm mit dem
Obercommando betraute General Decaen zurückziehn mußten. Antwerpen zu
halten, schien jetzt schon eine außerordentliche Aufgabe; und im Innersten er¬
schüttert richtete Decaen ein Schreiben an den Kriegsminister, welches ein
schlagendes Zeichen der Zeit war und in welchem es heißt: „8i I'Lmpöreur
xouvait r6unir toute ig. Kranes autour as lui, La N^esta eutöiiärgit crier
6e toutss xarts: Lire, äonnex-nous ig. Mix!"**)

Napoleon war weit davon entfernt, diese Stimmen zu hören. Inner¬
halb 15 Monaten hatte er die Aushebung von 1.327,000 Mann
decretirt; nun sollte auch noch die 1so6k <zu eng,ssL in Scene gesetzt
werden. Als Werkzeug dazu gedachte er den gesetzgebenden Körper zu be¬
nutzen, der ja ganz aus seinen Creaturen bestand und gewohnt war, seinen
leisesten Winken zu gehorchen. Diesmal aber täuschte sich Napoleon. Zu




-) Roussst- Si'Atlas armöe <1s 1813.
") Brief vom 15. December 1813- Als Decaen ihn schrieb, wußte er noch nicht, daß er
bereits in tiefste Ungnade gefallen sei.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/363>, abgerufen am 22.07.2024.