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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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unerhört war das, was er Frankreich zugemuthet, zu empörend die lügnerische
Frechheit, mit welcher er den Abgeordneten begegnete. Die Nation war er¬
müdet und abgestumpft! Sie war der kaiserlichen Glorie überdrüssig und ver¬
wünschte den Mann, der sie nach fünfundzwanzigjährigen Wettkämpfen zwang,
mit aufgezehrten Mitteln um ihre Existenz zu fechten. "Es wäre mir un¬
möglich", sagt Marmont in seinen Memoiren, "die tiefe Entmuthigung zu
schildern, die Unzufriedenheit im Heer und in ganz Frankreich, zu
sagen, welche traurige Zukunft ein jeder voraussah." -- "Weg mit der Con-
scription, weg mit denvereinigten Gebühren!"*) das war der laute Ruf, der
aus jedem Munde klang, und derselbe Ton hallte auch in den Commissions¬
berichten der Kammer und der von ihr beschlossenen Adresse wieder. Als dem
gesetzgebenden Körper die Actenstücke der Friedensverhandlungen übergeben
wurden, ließ ihr Napoleon gerade das wichtigste derselben, welches die un¬
glaublich günstigen Anerbietungen der Verbündeten enthielt, trotz Coulain--
court's dringenden Gegenvorstellungen, vorenthalten. Jene Anerbietungen
aber wurden durch das Frankfurter Manifest dennoch bekannt. Auf sie ge¬
stützt, sprach einer der Hauptredner das bezeichnende Wort: "Man will uns ja
nicht erniedrigen, man will uns nur auf unsere Grenzen beschränken und die
Gewalt eines ehrsüchtigen Strebens brechen, das seit zwanzig Jahren allen
Völkern Europas so verhängnißvoll geworden ist. Solche Vorschläge scheinen
uns ehrenhaft für die Nation . .. Unser Unglück ist auf seinem Gipfel...
Die Conscription ist durch ihr Uebermaß für ganz Frankreich eine gehäs¬
sige Geißel geworden. Seit zwei Jahren mäht man dreimal im Jahr; ein
barbarischer Krieg verschlingt periodenweise eine Jugend, die der Erziehung,
dem Ackerbau, dem Handel und den Gewerben entrissen wird!" Eine solche
Sprache hatte man lange nicht gehört in Frankreich, und gleicher Geist dic-
tirte auch den Bericht der Adreßcommission. "Nur dann kann der Kai¬
ser hoffen", so hieß es darin, "den Krieg zu einem nationalen zu
machen, wenn er sich förmlich verpflichtet, ihn nur für die Unabhängigkeit
des französischen Volks und die Integrität seines Gebietes zu führen, und
wenn er der Verletzung der Gesetze steuert, die den Franzosen Freiheit, Un¬
verletzlichkeit der Person und des Eigenthums, der Nation aber freie Aus¬
übung der politischen Rechte garantiren." Es kam nicht zum Erlaß einer
Adresse; auf jenen Commissionsbericht hin löste der Kaiser die Kammer auf,



*) Diese verhaßten clroits röuuis, die Personalsteuern, die Abgaben von Thüren und
Fenstern wurden verdoppelt und sämmtliche Gemeinden ihres Eigenthums beraubt.
Alles, was sie an liegenden Gründen u. dergl. besaßen, wurde eingezogen und zum Besten des
entleerten Reichsschatzes verkauft. -- Seinen Privatschatz suchte Napoleon auffallender Weise
auch in diesem verhängnißvollen Augenblick zu schonen.

unerhört war das, was er Frankreich zugemuthet, zu empörend die lügnerische
Frechheit, mit welcher er den Abgeordneten begegnete. Die Nation war er¬
müdet und abgestumpft! Sie war der kaiserlichen Glorie überdrüssig und ver¬
wünschte den Mann, der sie nach fünfundzwanzigjährigen Wettkämpfen zwang,
mit aufgezehrten Mitteln um ihre Existenz zu fechten. „Es wäre mir un¬
möglich", sagt Marmont in seinen Memoiren, „die tiefe Entmuthigung zu
schildern, die Unzufriedenheit im Heer und in ganz Frankreich, zu
sagen, welche traurige Zukunft ein jeder voraussah." — „Weg mit der Con-
scription, weg mit denvereinigten Gebühren!"*) das war der laute Ruf, der
aus jedem Munde klang, und derselbe Ton hallte auch in den Commissions¬
berichten der Kammer und der von ihr beschlossenen Adresse wieder. Als dem
gesetzgebenden Körper die Actenstücke der Friedensverhandlungen übergeben
wurden, ließ ihr Napoleon gerade das wichtigste derselben, welches die un¬
glaublich günstigen Anerbietungen der Verbündeten enthielt, trotz Coulain--
court's dringenden Gegenvorstellungen, vorenthalten. Jene Anerbietungen
aber wurden durch das Frankfurter Manifest dennoch bekannt. Auf sie ge¬
stützt, sprach einer der Hauptredner das bezeichnende Wort: „Man will uns ja
nicht erniedrigen, man will uns nur auf unsere Grenzen beschränken und die
Gewalt eines ehrsüchtigen Strebens brechen, das seit zwanzig Jahren allen
Völkern Europas so verhängnißvoll geworden ist. Solche Vorschläge scheinen
uns ehrenhaft für die Nation . .. Unser Unglück ist auf seinem Gipfel...
Die Conscription ist durch ihr Uebermaß für ganz Frankreich eine gehäs¬
sige Geißel geworden. Seit zwei Jahren mäht man dreimal im Jahr; ein
barbarischer Krieg verschlingt periodenweise eine Jugend, die der Erziehung,
dem Ackerbau, dem Handel und den Gewerben entrissen wird!" Eine solche
Sprache hatte man lange nicht gehört in Frankreich, und gleicher Geist dic-
tirte auch den Bericht der Adreßcommission. „Nur dann kann der Kai¬
ser hoffen", so hieß es darin, „den Krieg zu einem nationalen zu
machen, wenn er sich förmlich verpflichtet, ihn nur für die Unabhängigkeit
des französischen Volks und die Integrität seines Gebietes zu führen, und
wenn er der Verletzung der Gesetze steuert, die den Franzosen Freiheit, Un¬
verletzlichkeit der Person und des Eigenthums, der Nation aber freie Aus¬
übung der politischen Rechte garantiren." Es kam nicht zum Erlaß einer
Adresse; auf jenen Commissionsbericht hin löste der Kaiser die Kammer auf,



*) Diese verhaßten clroits röuuis, die Personalsteuern, die Abgaben von Thüren und
Fenstern wurden verdoppelt und sämmtliche Gemeinden ihres Eigenthums beraubt.
Alles, was sie an liegenden Gründen u. dergl. besaßen, wurde eingezogen und zum Besten des
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auch in diesem verhängnißvollen Augenblick zu schonen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/364>, abgerufen am 22.12.2024.