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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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land rechnete und überzeugt war, er brauche sich nur zwischen beide zu schieben,
um den Süden zu neutralisiren, wenn nicht gar zur Heeresfolge zu vermögen.
Der zweite Irrthum lag darin, daß der Kaiser es für möglich hielt, das ihm
wolbekannte Zahlenübergewicht der norddeutschen Armee über die französische,
durch ein überraschendes Auftreten der letzteren, durch Schnelligkeit der ersten
Actionen auszugleichen. Grade die Schwerfälligkeit ihrer Mobilmachung, die
zumeist aus übermäßiger Centralisation entsprang, war ja eben die größte
Schwäche der französischen Heereseinrichtung, und weit entfernt, durch klug
gemäßigtes Tempo dem Heere Zeit zu gönnen sich zu rüsten, stürzte die Diplo¬
matie dem Krieg prestissimo entgegen; während der Soldat kaum zu satteln
begonnen, gingen die Minister schon durch. Der Halbwille dann, im entschei¬
denden Augenblicke mit unfertigen Truppentheilen in die Action einzutreten,
hat die Verhältnisse nur noch mehr complicirt, die Unordnung ins Unendliche
gesteigert und die ersten Katastrophen so verhängnißvoll gemacht; denn als
der deutsche Angriff mit vollständig kriegsgeordneten Armeecorps begann,
waren die französischen Corps zum großen Theil noch in ihrer Completirung
und Formation begriffen. Zu diesen Uebelständen gesellte sich endlich noch
die fehlerhafte, weithin zersplitterte Aufstellung der französischen Armee. --
"Unfähig selbst die Offensive zu ergreifen, und doch nicht gewillt, sie aufzu¬
geben, schritt man auf französischer Seite zu der halben Maßregel einer ge¬
waltsamen Recognoscirung gegen Saarbrücken."

Das dritte Capitel: Die deutschen Armeen; Operationsplan
und Aufmarsch bis zum 31. Juli ist vielleicht der interessanteste Theil
der vorliegenden Lieferung, und zwar vorzugsweise durch Mittheilung des
deutschen Operationsplans, wie derselbe von General von Moltke
bereits im Winter 1868--1869 festgestellt wurde. -- Man hört so
oft von Unkundigen die Meinung aussprechen: Die detaillirte Vorbereitung
zum Kriege mit Frankreich, wie sie bei der Eröffnung des großen Völkerkampfs
im Jahre 1870 hervorgetreten sei, beweise unumstößlich, daß Preußen seit
langer Zeit den Krieg mit Frankreich gewollt habe. Nichts ist unrichtiger
als das. "Zu den Aufgaben des Generalstabes im Frieden gehört es, für
alle wahrscheinlichen kriegerischen Eventualitäten die Gruppirung und den
Transport der Truppenmassen in detaillirtester Weise zu bearbeiten und die
Entwürfe dafür im Voraus bereit zu halten." Diese Gruppirungen und Ent-
würfe, die, bis auf Mann und Pferd genau berechnet, fix und fertig für jeden
muthmaßlichen Kriegsschauplatz ausgearbeitet und bei jeder Veränderung in
den Disloeirungen oder Stärkeverhältnissen der Armee, bei jeder Aenderung
des Bestandes an Eisenbahnen, Transportmitteln u. s. w. umgearbeitet
werden, lehnen sich natürlich an einen bestimmten Plan an. Ein solcher ist
jenes Memoire des Generals von Moltke. Es bezeichnet als geeignetsten Ver-


land rechnete und überzeugt war, er brauche sich nur zwischen beide zu schieben,
um den Süden zu neutralisiren, wenn nicht gar zur Heeresfolge zu vermögen.
Der zweite Irrthum lag darin, daß der Kaiser es für möglich hielt, das ihm
wolbekannte Zahlenübergewicht der norddeutschen Armee über die französische,
durch ein überraschendes Auftreten der letzteren, durch Schnelligkeit der ersten
Actionen auszugleichen. Grade die Schwerfälligkeit ihrer Mobilmachung, die
zumeist aus übermäßiger Centralisation entsprang, war ja eben die größte
Schwäche der französischen Heereseinrichtung, und weit entfernt, durch klug
gemäßigtes Tempo dem Heere Zeit zu gönnen sich zu rüsten, stürzte die Diplo¬
matie dem Krieg prestissimo entgegen; während der Soldat kaum zu satteln
begonnen, gingen die Minister schon durch. Der Halbwille dann, im entschei¬
denden Augenblicke mit unfertigen Truppentheilen in die Action einzutreten,
hat die Verhältnisse nur noch mehr complicirt, die Unordnung ins Unendliche
gesteigert und die ersten Katastrophen so verhängnißvoll gemacht; denn als
der deutsche Angriff mit vollständig kriegsgeordneten Armeecorps begann,
waren die französischen Corps zum großen Theil noch in ihrer Completirung
und Formation begriffen. Zu diesen Uebelständen gesellte sich endlich noch
die fehlerhafte, weithin zersplitterte Aufstellung der französischen Armee. —
„Unfähig selbst die Offensive zu ergreifen, und doch nicht gewillt, sie aufzu¬
geben, schritt man auf französischer Seite zu der halben Maßregel einer ge¬
waltsamen Recognoscirung gegen Saarbrücken."

Das dritte Capitel: Die deutschen Armeen; Operationsplan
und Aufmarsch bis zum 31. Juli ist vielleicht der interessanteste Theil
der vorliegenden Lieferung, und zwar vorzugsweise durch Mittheilung des
deutschen Operationsplans, wie derselbe von General von Moltke
bereits im Winter 1868—1869 festgestellt wurde. — Man hört so
oft von Unkundigen die Meinung aussprechen: Die detaillirte Vorbereitung
zum Kriege mit Frankreich, wie sie bei der Eröffnung des großen Völkerkampfs
im Jahre 1870 hervorgetreten sei, beweise unumstößlich, daß Preußen seit
langer Zeit den Krieg mit Frankreich gewollt habe. Nichts ist unrichtiger
als das. „Zu den Aufgaben des Generalstabes im Frieden gehört es, für
alle wahrscheinlichen kriegerischen Eventualitäten die Gruppirung und den
Transport der Truppenmassen in detaillirtester Weise zu bearbeiten und die
Entwürfe dafür im Voraus bereit zu halten." Diese Gruppirungen und Ent-
würfe, die, bis auf Mann und Pferd genau berechnet, fix und fertig für jeden
muthmaßlichen Kriegsschauplatz ausgearbeitet und bei jeder Veränderung in
den Disloeirungen oder Stärkeverhältnissen der Armee, bei jeder Aenderung
des Bestandes an Eisenbahnen, Transportmitteln u. s. w. umgearbeitet
werden, lehnen sich natürlich an einen bestimmten Plan an. Ein solcher ist
jenes Memoire des Generals von Moltke. Es bezeichnet als geeignetsten Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/247>, abgerufen am 01.07.2024.