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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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bindung gesetzt werden; das Ganze aber soll endlich in eine einheitliche Be¬
leuchtung gebracht, von der leidenschaftlichen Subjectivität so vieler Einzelan¬
schauungen befreit und in die reine, wenn auch nicht farblose Höhe unpartei¬
ischer Darstellung emporgehoben werden. -- Das ist eine große Aufgabe: am
schwierigsten natürlich da, wo es sich um die Schilderung von Kämpfen
handelt; denn der mächtig angespannte Wille, der sich im Gefecht auf be¬
stimmte Ziele richtet, die glühende Erregung, in der man nur sich und den
Gegner fühlt, für Alles andere aber empfindungslos wird, läßt hier eine
ungewöhnliche Menge von Selbsttäuschungen zu. Unendlich oft werden Wunsch
und Leistung verwechselt; die Zeitunterschiede verlieren ihren Werth; Minuten,
in furchtbarem Feuer ausgehalten, scheinen Stunden; Truppen, welche mit
Anstrengung ihrer äußersten Kräfte dem Kanonendonner entgegenmarschirten,
glauben schon zu der Zeit auf dem Schlachtfelde eingetroffen zu sein, als sie
zum letzten Mal mit Bewußtsein nach der Uhr sahen, und das war vielleicht
eine Stunde bevor die erste Granate über sie hingesaust ist. Niemand will in
seinen Berichten täuschen; Niemand der eigenen Truppe Ehren zuwenden, die
vielleicht einer anderen gehören; aber die Beobachtungsfehler in der Schlacht
sind enorm, und nirgends mehr als derartigen Einzelrelationen gegenüber,
hat man sich an das Wort jenes geistreichen Publicisten zu erinnern: "Meine
Geschichte ist wahr, obgleich ich sie von einem Augenzeugen habe."

In der vorliegenden ersten Lieferung spielen die Gefechtsberichte noch eine
untergeordnete Rolle; hier ist es vorzugsweise die Darlegung der großen Ge-
sammtverhältnisse, welche das Interesse fesselt. -- Das Buch beginnt mit einer
historisch-politischen Einleitung, die, wir möchten sagen, im Freskostil ge¬
schrieben ist und als deren Autor man in kundigen Kreisen den Feldmarschall
Moltke selbst bezeichnen hört. In großen, klaren Zügen wird die gegenseitige
Stellung Deutschlands und Frankreichs von 1816 bis zur Gegenwart gezeich¬
net; das Wesentliche der spanischen Thronfolge-Angelegenheit dargelegt und
die rapide Entwickelung der Dinge in Paris skizzirt bis zu dem Augenblick,
in welchem der Kriegsminister Le Boeuf erklärte: die französische Armee sei
ArelüxrLt.

Das zweite Capitel schildert dann diese französische Armee sowie
ihren Operationsplan und ihren Aufmarsch vom 13. bis 31. Juli.

Es enthält eingehende Angaben über Organisation. Formation, Bewaff¬
nung und Stärke der französischen Streitkräfte beim Ausbruch des Krieges,
würdigt die dem herrschenden System eigenthümlichen sittlichen Erscheinungen
und Schäden, und legt dann den Operationsplan des Kaisers dar, der von
vornherein ein todtgeborenes Kind war, weil er auf zwei grundfalschen Vor¬
aussetzungen beruhte. Der erste dieser Hauptirrthümer bestand darin, daß
Napoleon mit vollster Sicherheit auf die Trennung von Nord- und Süddeutsch-


bindung gesetzt werden; das Ganze aber soll endlich in eine einheitliche Be¬
leuchtung gebracht, von der leidenschaftlichen Subjectivität so vieler Einzelan¬
schauungen befreit und in die reine, wenn auch nicht farblose Höhe unpartei¬
ischer Darstellung emporgehoben werden. — Das ist eine große Aufgabe: am
schwierigsten natürlich da, wo es sich um die Schilderung von Kämpfen
handelt; denn der mächtig angespannte Wille, der sich im Gefecht auf be¬
stimmte Ziele richtet, die glühende Erregung, in der man nur sich und den
Gegner fühlt, für Alles andere aber empfindungslos wird, läßt hier eine
ungewöhnliche Menge von Selbsttäuschungen zu. Unendlich oft werden Wunsch
und Leistung verwechselt; die Zeitunterschiede verlieren ihren Werth; Minuten,
in furchtbarem Feuer ausgehalten, scheinen Stunden; Truppen, welche mit
Anstrengung ihrer äußersten Kräfte dem Kanonendonner entgegenmarschirten,
glauben schon zu der Zeit auf dem Schlachtfelde eingetroffen zu sein, als sie
zum letzten Mal mit Bewußtsein nach der Uhr sahen, und das war vielleicht
eine Stunde bevor die erste Granate über sie hingesaust ist. Niemand will in
seinen Berichten täuschen; Niemand der eigenen Truppe Ehren zuwenden, die
vielleicht einer anderen gehören; aber die Beobachtungsfehler in der Schlacht
sind enorm, und nirgends mehr als derartigen Einzelrelationen gegenüber,
hat man sich an das Wort jenes geistreichen Publicisten zu erinnern: „Meine
Geschichte ist wahr, obgleich ich sie von einem Augenzeugen habe."

In der vorliegenden ersten Lieferung spielen die Gefechtsberichte noch eine
untergeordnete Rolle; hier ist es vorzugsweise die Darlegung der großen Ge-
sammtverhältnisse, welche das Interesse fesselt. — Das Buch beginnt mit einer
historisch-politischen Einleitung, die, wir möchten sagen, im Freskostil ge¬
schrieben ist und als deren Autor man in kundigen Kreisen den Feldmarschall
Moltke selbst bezeichnen hört. In großen, klaren Zügen wird die gegenseitige
Stellung Deutschlands und Frankreichs von 1816 bis zur Gegenwart gezeich¬
net; das Wesentliche der spanischen Thronfolge-Angelegenheit dargelegt und
die rapide Entwickelung der Dinge in Paris skizzirt bis zu dem Augenblick,
in welchem der Kriegsminister Le Boeuf erklärte: die französische Armee sei
ArelüxrLt.

Das zweite Capitel schildert dann diese französische Armee sowie
ihren Operationsplan und ihren Aufmarsch vom 13. bis 31. Juli.

Es enthält eingehende Angaben über Organisation. Formation, Bewaff¬
nung und Stärke der französischen Streitkräfte beim Ausbruch des Krieges,
würdigt die dem herrschenden System eigenthümlichen sittlichen Erscheinungen
und Schäden, und legt dann den Operationsplan des Kaisers dar, der von
vornherein ein todtgeborenes Kind war, weil er auf zwei grundfalschen Vor¬
aussetzungen beruhte. Der erste dieser Hauptirrthümer bestand darin, daß
Napoleon mit vollster Sicherheit auf die Trennung von Nord- und Süddeutsch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/246>, abgerufen am 29.06.2024.