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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Urtheil wird verlesen. Da erhebt sich der Großweibel Abraham Tscharner
als öffentlicher Anwalt der Verurtheilten. In einer pathetischen Rede betont
er die Schwächen des weiblichen Geschlechts und ihre oft zum Aeußersten führen¬
den Folgen, hebt' hervor, daß der Perregaux Vergehen zu keinem Geständniß
aber auch zu keinen bösen Folgen für das Gemeinwesen geführt, daß sie eine
Fremde und demnach weniger strafbar sei, daß man die böse Absicht nur dann
bestrafe, wenn sie von bösen Folgen begleitet sei und endlich daß man, ihre
vornehme Geburt berücksichtigend, sich hüten sollte, einer Familie, die sich jeder¬
zeit um den Staat so verdient gemacht habe, eine Schmach anzuthun; er
schließe daher mit der Bitte um Begnadigung.

Als er geendet, erschienen die sämmtlichen Verwandten der Perregaux in
langen schwarzen Mänteln und Trauergewändern und erklärten den Richtern,
daß sie sich aus der eben verlesenen Procedur nicht überzeugen könnten, die
Beklagte habe ein todteswürdiges Verbrechen begangen; im Gegentheil sei
das grausame und unerhörte Verfahren ein Beweis, daß man etwas ganz
anderes im Auge habe als Bestrafung ihrer Verwandten, nämlich die Schmähung
der ganzen Familie, der man sonst nichts nachreden könne, da sie sich immer
ohne Makel und Tadel benommen. Sie baten zugleich, sich ihrer Verdienste
um das Gemeinwesen zu erinnern und erklärten zum Schluß daß, falls die
Perregaux das Opfer einer unerhörten Grausamkeit werden sollte, sie ohne
anders ein so undankbares Vaterland verlassen und vertauschen würden, gegen
ein Land, das ihnen mehr Gerechtigkeit widerfahren ließe.

Die Richter zogen sich zurück und verwandelten das Todesurtheil "aus
Rücksichten gegen die Familie in ewige Verbannung nach Brasilien."

"Lieber den Tod, schrie die Angeklagte; das heiße den Tod tausendmal
erleiden, klagten die Verwandten, eine solche Strafe gegen eine Frau sei bei¬
spiellos und verlangten nochmals Revision des Urtheils. -- Also neue Be¬
rathung, neues Urtheil: es lautete "ewiges Gefängniß." Allein dieses Urtheil
wird ebenso verworfen, wie das auf Jnternirung in die Festung Aarburg. --
"So sei denn, lautet das fünfte Urtheil, die Gefangene der Obhut ihrer Ver¬
wandten übergeben. Letztere aber haben für ihre Person und die Kosten zu
haften. Aber auch gegen diese Bürgschaft protestirten die Verwandten, und
der letzte unwiderrufliche Spruch ging endlich dahin, daß die Perregaux in
Freiheit gesetzt werden solle; aber erst nach Erstattung der Proceßkosten,
die sich auf 200 Pistolen beliefen. Diese letztern wurden unter der Hand vom
französischen Gesandten Ameive bezahlt.

Bis die Proceßkosten bezahlt waren, hielt sie ihr geiziger Bruder
Samuel v. Wattenwyl, gewesener Landvogt von Romainmotier in einer
Dachkammer in strengsten Gewahrsam aus Furcht, sie möchte ihm entrinnen
und er dann die Kosten allein zu tragen haben. Endlich auf freien Fuß ge-


Urtheil wird verlesen. Da erhebt sich der Großweibel Abraham Tscharner
als öffentlicher Anwalt der Verurtheilten. In einer pathetischen Rede betont
er die Schwächen des weiblichen Geschlechts und ihre oft zum Aeußersten führen¬
den Folgen, hebt' hervor, daß der Perregaux Vergehen zu keinem Geständniß
aber auch zu keinen bösen Folgen für das Gemeinwesen geführt, daß sie eine
Fremde und demnach weniger strafbar sei, daß man die böse Absicht nur dann
bestrafe, wenn sie von bösen Folgen begleitet sei und endlich daß man, ihre
vornehme Geburt berücksichtigend, sich hüten sollte, einer Familie, die sich jeder¬
zeit um den Staat so verdient gemacht habe, eine Schmach anzuthun; er
schließe daher mit der Bitte um Begnadigung.

Als er geendet, erschienen die sämmtlichen Verwandten der Perregaux in
langen schwarzen Mänteln und Trauergewändern und erklärten den Richtern,
daß sie sich aus der eben verlesenen Procedur nicht überzeugen könnten, die
Beklagte habe ein todteswürdiges Verbrechen begangen; im Gegentheil sei
das grausame und unerhörte Verfahren ein Beweis, daß man etwas ganz
anderes im Auge habe als Bestrafung ihrer Verwandten, nämlich die Schmähung
der ganzen Familie, der man sonst nichts nachreden könne, da sie sich immer
ohne Makel und Tadel benommen. Sie baten zugleich, sich ihrer Verdienste
um das Gemeinwesen zu erinnern und erklärten zum Schluß daß, falls die
Perregaux das Opfer einer unerhörten Grausamkeit werden sollte, sie ohne
anders ein so undankbares Vaterland verlassen und vertauschen würden, gegen
ein Land, das ihnen mehr Gerechtigkeit widerfahren ließe.

Die Richter zogen sich zurück und verwandelten das Todesurtheil „aus
Rücksichten gegen die Familie in ewige Verbannung nach Brasilien."

„Lieber den Tod, schrie die Angeklagte; das heiße den Tod tausendmal
erleiden, klagten die Verwandten, eine solche Strafe gegen eine Frau sei bei¬
spiellos und verlangten nochmals Revision des Urtheils. — Also neue Be¬
rathung, neues Urtheil: es lautete „ewiges Gefängniß." Allein dieses Urtheil
wird ebenso verworfen, wie das auf Jnternirung in die Festung Aarburg. —
„So sei denn, lautet das fünfte Urtheil, die Gefangene der Obhut ihrer Ver¬
wandten übergeben. Letztere aber haben für ihre Person und die Kosten zu
haften. Aber auch gegen diese Bürgschaft protestirten die Verwandten, und
der letzte unwiderrufliche Spruch ging endlich dahin, daß die Perregaux in
Freiheit gesetzt werden solle; aber erst nach Erstattung der Proceßkosten,
die sich auf 200 Pistolen beliefen. Diese letztern wurden unter der Hand vom
französischen Gesandten Ameive bezahlt.

Bis die Proceßkosten bezahlt waren, hielt sie ihr geiziger Bruder
Samuel v. Wattenwyl, gewesener Landvogt von Romainmotier in einer
Dachkammer in strengsten Gewahrsam aus Furcht, sie möchte ihm entrinnen
und er dann die Kosten allein zu tragen haben. Endlich auf freien Fuß ge-


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[0194] Urtheil wird verlesen. Da erhebt sich der Großweibel Abraham Tscharner als öffentlicher Anwalt der Verurtheilten. In einer pathetischen Rede betont er die Schwächen des weiblichen Geschlechts und ihre oft zum Aeußersten führen¬ den Folgen, hebt' hervor, daß der Perregaux Vergehen zu keinem Geständniß aber auch zu keinen bösen Folgen für das Gemeinwesen geführt, daß sie eine Fremde und demnach weniger strafbar sei, daß man die böse Absicht nur dann bestrafe, wenn sie von bösen Folgen begleitet sei und endlich daß man, ihre vornehme Geburt berücksichtigend, sich hüten sollte, einer Familie, die sich jeder¬ zeit um den Staat so verdient gemacht habe, eine Schmach anzuthun; er schließe daher mit der Bitte um Begnadigung. Als er geendet, erschienen die sämmtlichen Verwandten der Perregaux in langen schwarzen Mänteln und Trauergewändern und erklärten den Richtern, daß sie sich aus der eben verlesenen Procedur nicht überzeugen könnten, die Beklagte habe ein todteswürdiges Verbrechen begangen; im Gegentheil sei das grausame und unerhörte Verfahren ein Beweis, daß man etwas ganz anderes im Auge habe als Bestrafung ihrer Verwandten, nämlich die Schmähung der ganzen Familie, der man sonst nichts nachreden könne, da sie sich immer ohne Makel und Tadel benommen. Sie baten zugleich, sich ihrer Verdienste um das Gemeinwesen zu erinnern und erklärten zum Schluß daß, falls die Perregaux das Opfer einer unerhörten Grausamkeit werden sollte, sie ohne anders ein so undankbares Vaterland verlassen und vertauschen würden, gegen ein Land, das ihnen mehr Gerechtigkeit widerfahren ließe. Die Richter zogen sich zurück und verwandelten das Todesurtheil „aus Rücksichten gegen die Familie in ewige Verbannung nach Brasilien." „Lieber den Tod, schrie die Angeklagte; das heiße den Tod tausendmal erleiden, klagten die Verwandten, eine solche Strafe gegen eine Frau sei bei¬ spiellos und verlangten nochmals Revision des Urtheils. — Also neue Be¬ rathung, neues Urtheil: es lautete „ewiges Gefängniß." Allein dieses Urtheil wird ebenso verworfen, wie das auf Jnternirung in die Festung Aarburg. — „So sei denn, lautet das fünfte Urtheil, die Gefangene der Obhut ihrer Ver¬ wandten übergeben. Letztere aber haben für ihre Person und die Kosten zu haften. Aber auch gegen diese Bürgschaft protestirten die Verwandten, und der letzte unwiderrufliche Spruch ging endlich dahin, daß die Perregaux in Freiheit gesetzt werden solle; aber erst nach Erstattung der Proceßkosten, die sich auf 200 Pistolen beliefen. Diese letztern wurden unter der Hand vom französischen Gesandten Ameive bezahlt. Bis die Proceßkosten bezahlt waren, hielt sie ihr geiziger Bruder Samuel v. Wattenwyl, gewesener Landvogt von Romainmotier in einer Dachkammer in strengsten Gewahrsam aus Furcht, sie möchte ihm entrinnen und er dann die Kosten allein zu tragen haben. Endlich auf freien Fuß ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/194>, abgerufen am 23.07.2024.