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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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frischer Erinnerung ist. Das nächste große Cholerajahr wird nach meiner
Theorie 1883^<,o, sein."

Auf die weiteren, zum Theil astronomischen Auseinandersetzungen des
Dr. Jenkins können wir uns hier nicht einlassen -- das Ganze schmeckt zu
sehr nach Astrologie und die Ausführungen eines Pettenkofer oder Ratcliffe
erscheinen uns plausibler. Die Seuche, sagt letzterer, geht nicht selbst, sie wird
getragen. In der unmittelbaren Nachbarschaft ihres Vorkommens kann sie
vom Kranken auf dem Gesunden durch die verschiedenartigsten Canäle über¬
gehen, am häufigsten aber durch Trinkwasser, das auf irgend eine Weise durch
Choleraausleerungen verunreinigt ist. Die Erkenntniß dieses einen Canals
schließt keineswegs aus, daß nicht auch noch manche andere vorhanden sind
und die Desinfection, welche fast allgemein, zur Zeit der Epidemieen ausge¬
führt wird, bezweckt ja nur solche mit Luft oder Erde verknüpfte Cholerver-
unreinigungen zu zerstören. Wasser, Erde, Luft, obgleich sie bekannte oder
beargwohnte Träger des Contagiums sind, würden dieses doch nicht auf all¬
zuweite Entfernungen verpflanzen können, da zeitig genug die chemische
Zersetzung des Ansteckungsstoffes eintritt; wären sie die einzigen Verbreiter
der Ansteckung, so müßte letztere nur langsam fortwandern und vor Wüsten
oder unbewohnten Gegenden vollständig Halt machen. Auch müßte dann die
Krankheit sich gleichmäßig und concentrisch von ihrem Ursprungsorte ausbreiten,
was jedoch bekanntermaßen nicht der Fall ist. Hier erscheint nun der
Reisende auf der Scene; einmal angesteckt nimmt er den Krankheits¬
stoff mit sich fort und führt ihn nach einem andern Orte über. Das oben
angeführte Beispiel der Krankheitsverschleppung von Stettin nach Halifax ist
in dieser Beziehung außerordentlich schlagend und in Indien, diesem großen
Cholerafocus, wo die Eisenbahnen das Reisen jetzt so erleichtert haben, kommen
fortwährend ähnliche Beispiele vor; jetzt tritt dort die Cholera häusig in Pro¬
vinzen auf, in denen sie sonst während einer Generation höchstens einmal
erschien. Das Ergebniß dieser Betrachtungen ist nun. daß die heutigen Epide-
miologisten alle die veralteten Hypothesen von Choleraluftströmen bei Seite
geschoben haben und der Cholera und ihrer Verbreitung nur längs
den großen Straßen des menschlichen Verkehrs nachspüren.
Die Verbreitung durch die Mekkapilger ist bereits 1866 zum Gegenstand von
Untersuchungen gemacht worden und jetzt beschäftigen sich die mit dem Gegen¬
stande Vertrauten bereits mit den Folgen, welche der Bau der Bahnen nach
dem Orient auf die Verbreitung der Cholera nach Europa haben wird. Die
Eisenbahn muß hier noch ganz anders und weit gefährlicher wirken, als die
langsamen Pilgerkarawanen, und in der That drohen uns durch den Bau der
neuen nach Indien gerichteten Bahnen Choleragefahren.

Wenn mohammedanische Pilger es für das größte Glück halten auf einer


frischer Erinnerung ist. Das nächste große Cholerajahr wird nach meiner
Theorie 1883^<,o, sein."

Auf die weiteren, zum Theil astronomischen Auseinandersetzungen des
Dr. Jenkins können wir uns hier nicht einlassen — das Ganze schmeckt zu
sehr nach Astrologie und die Ausführungen eines Pettenkofer oder Ratcliffe
erscheinen uns plausibler. Die Seuche, sagt letzterer, geht nicht selbst, sie wird
getragen. In der unmittelbaren Nachbarschaft ihres Vorkommens kann sie
vom Kranken auf dem Gesunden durch die verschiedenartigsten Canäle über¬
gehen, am häufigsten aber durch Trinkwasser, das auf irgend eine Weise durch
Choleraausleerungen verunreinigt ist. Die Erkenntniß dieses einen Canals
schließt keineswegs aus, daß nicht auch noch manche andere vorhanden sind
und die Desinfection, welche fast allgemein, zur Zeit der Epidemieen ausge¬
führt wird, bezweckt ja nur solche mit Luft oder Erde verknüpfte Cholerver-
unreinigungen zu zerstören. Wasser, Erde, Luft, obgleich sie bekannte oder
beargwohnte Träger des Contagiums sind, würden dieses doch nicht auf all¬
zuweite Entfernungen verpflanzen können, da zeitig genug die chemische
Zersetzung des Ansteckungsstoffes eintritt; wären sie die einzigen Verbreiter
der Ansteckung, so müßte letztere nur langsam fortwandern und vor Wüsten
oder unbewohnten Gegenden vollständig Halt machen. Auch müßte dann die
Krankheit sich gleichmäßig und concentrisch von ihrem Ursprungsorte ausbreiten,
was jedoch bekanntermaßen nicht der Fall ist. Hier erscheint nun der
Reisende auf der Scene; einmal angesteckt nimmt er den Krankheits¬
stoff mit sich fort und führt ihn nach einem andern Orte über. Das oben
angeführte Beispiel der Krankheitsverschleppung von Stettin nach Halifax ist
in dieser Beziehung außerordentlich schlagend und in Indien, diesem großen
Cholerafocus, wo die Eisenbahnen das Reisen jetzt so erleichtert haben, kommen
fortwährend ähnliche Beispiele vor; jetzt tritt dort die Cholera häusig in Pro¬
vinzen auf, in denen sie sonst während einer Generation höchstens einmal
erschien. Das Ergebniß dieser Betrachtungen ist nun. daß die heutigen Epide-
miologisten alle die veralteten Hypothesen von Choleraluftströmen bei Seite
geschoben haben und der Cholera und ihrer Verbreitung nur längs
den großen Straßen des menschlichen Verkehrs nachspüren.
Die Verbreitung durch die Mekkapilger ist bereits 1866 zum Gegenstand von
Untersuchungen gemacht worden und jetzt beschäftigen sich die mit dem Gegen¬
stande Vertrauten bereits mit den Folgen, welche der Bau der Bahnen nach
dem Orient auf die Verbreitung der Cholera nach Europa haben wird. Die
Eisenbahn muß hier noch ganz anders und weit gefährlicher wirken, als die
langsamen Pilgerkarawanen, und in der That drohen uns durch den Bau der
neuen nach Indien gerichteten Bahnen Choleragefahren.

Wenn mohammedanische Pilger es für das größte Glück halten auf einer


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[0143] frischer Erinnerung ist. Das nächste große Cholerajahr wird nach meiner Theorie 1883^<,o, sein." Auf die weiteren, zum Theil astronomischen Auseinandersetzungen des Dr. Jenkins können wir uns hier nicht einlassen — das Ganze schmeckt zu sehr nach Astrologie und die Ausführungen eines Pettenkofer oder Ratcliffe erscheinen uns plausibler. Die Seuche, sagt letzterer, geht nicht selbst, sie wird getragen. In der unmittelbaren Nachbarschaft ihres Vorkommens kann sie vom Kranken auf dem Gesunden durch die verschiedenartigsten Canäle über¬ gehen, am häufigsten aber durch Trinkwasser, das auf irgend eine Weise durch Choleraausleerungen verunreinigt ist. Die Erkenntniß dieses einen Canals schließt keineswegs aus, daß nicht auch noch manche andere vorhanden sind und die Desinfection, welche fast allgemein, zur Zeit der Epidemieen ausge¬ führt wird, bezweckt ja nur solche mit Luft oder Erde verknüpfte Cholerver- unreinigungen zu zerstören. Wasser, Erde, Luft, obgleich sie bekannte oder beargwohnte Träger des Contagiums sind, würden dieses doch nicht auf all¬ zuweite Entfernungen verpflanzen können, da zeitig genug die chemische Zersetzung des Ansteckungsstoffes eintritt; wären sie die einzigen Verbreiter der Ansteckung, so müßte letztere nur langsam fortwandern und vor Wüsten oder unbewohnten Gegenden vollständig Halt machen. Auch müßte dann die Krankheit sich gleichmäßig und concentrisch von ihrem Ursprungsorte ausbreiten, was jedoch bekanntermaßen nicht der Fall ist. Hier erscheint nun der Reisende auf der Scene; einmal angesteckt nimmt er den Krankheits¬ stoff mit sich fort und führt ihn nach einem andern Orte über. Das oben angeführte Beispiel der Krankheitsverschleppung von Stettin nach Halifax ist in dieser Beziehung außerordentlich schlagend und in Indien, diesem großen Cholerafocus, wo die Eisenbahnen das Reisen jetzt so erleichtert haben, kommen fortwährend ähnliche Beispiele vor; jetzt tritt dort die Cholera häusig in Pro¬ vinzen auf, in denen sie sonst während einer Generation höchstens einmal erschien. Das Ergebniß dieser Betrachtungen ist nun. daß die heutigen Epide- miologisten alle die veralteten Hypothesen von Choleraluftströmen bei Seite geschoben haben und der Cholera und ihrer Verbreitung nur längs den großen Straßen des menschlichen Verkehrs nachspüren. Die Verbreitung durch die Mekkapilger ist bereits 1866 zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden und jetzt beschäftigen sich die mit dem Gegen¬ stande Vertrauten bereits mit den Folgen, welche der Bau der Bahnen nach dem Orient auf die Verbreitung der Cholera nach Europa haben wird. Die Eisenbahn muß hier noch ganz anders und weit gefährlicher wirken, als die langsamen Pilgerkarawanen, und in der That drohen uns durch den Bau der neuen nach Indien gerichteten Bahnen Choleragefahren. Wenn mohammedanische Pilger es für das größte Glück halten auf einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/143>, abgerufen am 22.07.2024.