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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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tritt uns das sichere auf mehr als oberflächlichem Quellenstudium beruhende
historische Urtheil entgegen, überall die weitreichende Kenntniß des Details,
die ihm das Zusammenfassen unter seine Gesichtspunkte gestattet und ermög¬
licht und stützt. Auch wo sein Wort die Details der Thatsachen nur streift,
ist es von dem Geiste derselben gesättigt und erfüllt. Eben deshalb ist
Treitschke der Erste unserer deutschen Publicisten, weil er zu den Ersten un¬
serer wissenschaftlichen Geschichtsforscher gehört.

Selbstverständlich meinen wir damit nicht, daß allen seinen verschiedenen
Arbeiten der gleiche Werth zuzusprechen sei. Recht bedeutende Gradunter¬
schiede wird der Sachverständige nachzuweisen im Stande sein. Wir unserer¬
seits sind auch durchaus nicht in der Lage, alle seine Behauptungen vertreten
zu wollen; ganz besonders wo er ältere Zustände und Ereignisse, sei es des
Mittelalters, sei es auch der Reformationszeit berührt, würden wir bisweilen
recht lebhaft zu widersprechen uns genöthigt sehen müssen. Darauf näher ein¬
zugehen ist natürlich hier nicht der Ort. Sein eigenstes Gebiet ist die neuere,
besonders die neuere deutsche Geschichte. --

Die Resultate seiner wissenschaftlichen Arbeiten sind ihm mehr als wissen¬
schaftliche Resultate: sie sind für ihn ein Stück seines Lebens. Und mit der
größten Energie vertritt er die Ueberzeugungen, die er für unsere politische
Gegenwart als Früchte seiner historischen Arbeit gewonnen hat. Ohne jede
Rücksicht folgt er seiner Einsicht. Alle Welt, Freund wie Feind, hält Treitschke
heute gerade um dieser rücksichtslosen Offenheit, um dieser energischen Wahr¬
heitsliebe willen so hoch. Und es ist in der That ein nicht geringes Lob da¬
mit ihm gespendet. Wie 1864 und 1863 er den ersten großen Erfolg seines
Lebens gerade dieser seiner Eigenschaft verdankt hatte, so hat er auch seitdem
wiederholt schon erneuerte Proben seiner mannhaften Ueberzeugungstreue und
furchtlosen Energie abgelegt. Es ist eine Eigenschaft, die Treitschke vor vielen
Männern der Wissenschaft ehrenvoll auszeichnet. Heute kommt das wohl
nicht oft mehr vor, daß aus Liebedienerei und Schmeichelei vor Fürsten und
anderen hohen Gönnern und Machthabern die Größen der Wissenschaft sich
in den Staub werfen, wie es noch im'Anfang unseres Jahrhunderts der
namhafteste der deutschen Historiker zu thun sich nicht entblödet hat. Heute
scheint uns eine ähnliche Gefahr vielmehr nach der anderen Seite hin vorhan¬
den zu sein: der öffentlichen Meinung beugen sich heute weitaus die meisten
unserer wissenschaftlichen Charaktere; dem allmächtigen Strome des großen
Haufens lieben Wenige sich entgegenzuwerfen. Wie mancher brave und
ehrliche Gelehrte glaubt heute schon einen Beweis sittlichen Muthes abgelegt
zu haben, wenn er nur nicht einstimmt in das Rufen der Tagesmeinung,
wenn er nur schweigend zuhört oder passiv zusieht einer allgemeinen Be¬
wegung, die er für unrichtig oder unheilvoll hält. Den Vorwurf, "bei dieser


tritt uns das sichere auf mehr als oberflächlichem Quellenstudium beruhende
historische Urtheil entgegen, überall die weitreichende Kenntniß des Details,
die ihm das Zusammenfassen unter seine Gesichtspunkte gestattet und ermög¬
licht und stützt. Auch wo sein Wort die Details der Thatsachen nur streift,
ist es von dem Geiste derselben gesättigt und erfüllt. Eben deshalb ist
Treitschke der Erste unserer deutschen Publicisten, weil er zu den Ersten un¬
serer wissenschaftlichen Geschichtsforscher gehört.

Selbstverständlich meinen wir damit nicht, daß allen seinen verschiedenen
Arbeiten der gleiche Werth zuzusprechen sei. Recht bedeutende Gradunter¬
schiede wird der Sachverständige nachzuweisen im Stande sein. Wir unserer¬
seits sind auch durchaus nicht in der Lage, alle seine Behauptungen vertreten
zu wollen; ganz besonders wo er ältere Zustände und Ereignisse, sei es des
Mittelalters, sei es auch der Reformationszeit berührt, würden wir bisweilen
recht lebhaft zu widersprechen uns genöthigt sehen müssen. Darauf näher ein¬
zugehen ist natürlich hier nicht der Ort. Sein eigenstes Gebiet ist die neuere,
besonders die neuere deutsche Geschichte. —

Die Resultate seiner wissenschaftlichen Arbeiten sind ihm mehr als wissen¬
schaftliche Resultate: sie sind für ihn ein Stück seines Lebens. Und mit der
größten Energie vertritt er die Ueberzeugungen, die er für unsere politische
Gegenwart als Früchte seiner historischen Arbeit gewonnen hat. Ohne jede
Rücksicht folgt er seiner Einsicht. Alle Welt, Freund wie Feind, hält Treitschke
heute gerade um dieser rücksichtslosen Offenheit, um dieser energischen Wahr¬
heitsliebe willen so hoch. Und es ist in der That ein nicht geringes Lob da¬
mit ihm gespendet. Wie 1864 und 1863 er den ersten großen Erfolg seines
Lebens gerade dieser seiner Eigenschaft verdankt hatte, so hat er auch seitdem
wiederholt schon erneuerte Proben seiner mannhaften Ueberzeugungstreue und
furchtlosen Energie abgelegt. Es ist eine Eigenschaft, die Treitschke vor vielen
Männern der Wissenschaft ehrenvoll auszeichnet. Heute kommt das wohl
nicht oft mehr vor, daß aus Liebedienerei und Schmeichelei vor Fürsten und
anderen hohen Gönnern und Machthabern die Größen der Wissenschaft sich
in den Staub werfen, wie es noch im'Anfang unseres Jahrhunderts der
namhafteste der deutschen Historiker zu thun sich nicht entblödet hat. Heute
scheint uns eine ähnliche Gefahr vielmehr nach der anderen Seite hin vorhan¬
den zu sein: der öffentlichen Meinung beugen sich heute weitaus die meisten
unserer wissenschaftlichen Charaktere; dem allmächtigen Strome des großen
Haufens lieben Wenige sich entgegenzuwerfen. Wie mancher brave und
ehrliche Gelehrte glaubt heute schon einen Beweis sittlichen Muthes abgelegt
zu haben, wenn er nur nicht einstimmt in das Rufen der Tagesmeinung,
wenn er nur schweigend zuhört oder passiv zusieht einer allgemeinen Be¬
wegung, die er für unrichtig oder unheilvoll hält. Den Vorwurf, „bei dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/58>, abgerufen am 22.12.2024.