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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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ärmeren Bevölkerung und der Volksernährung. Dagegen würden durch die
Einkommensteuer auch gewisse Kategorien reicherer Einwohner, die bisher ver¬
hältnißmäßig sehr wenig zahlten, auf einen annähernd ganz rationellen Steuersatz
gebracht worden sein. Nun sollte man glauben -- und man erwartete das auch mit
einiger Gewißheit --, die liberale Kammermehrheit würde für die Regierungs¬
vorlage stimmen, wenigstens das darin ausgesprochene Princip gutheißen.
Das ist aber nicht geschehen. Die Majorität, das heißt die Klerikalen und
die conservative Partei mit einer großen Anzahl liberaler Abgeordneter stimmten
gegen eine Einkommensteuer, gleichviel in welcher Fassung. Die Generaldebatte
daue-te zehn Tage lang, und nur wenige Mitglieder des Hauses haben sich
darin nicht hören lassen. Ein ganz buntes Gemisch von Ansichten gab sich
kund; es blieb nicht beim breiten Ausmessen der Mängel der Vorlage, sondern
auch ganz eigenthümliche Meinungen wurden geäußert. Es herrschte vielfach
der Glaube, der Steuerzahler müsse sich so einrichten können, daß er ein Mini¬
mum zu zahlen habe; es müsse in seinem Ermessen stehen, zu zahlen was er
wolle, und nicht wozu er gezwungen würde! Die Einkommensteuer führe
zum Socialismus, zur Commune! Sie greife ins Familienleben hinein. Sie
drücke zu schwer aus den geringen Stand. Andere wieder sahen in der Ein¬
kommensteuer nicht die "vollkommene" Steuer, deßhalb wollten sie das Alte,
bekanntermaßen sehr Schlechte bestehen lassen; sie konnten sich nicht dazu ent¬
schließen, das relativ Bessere zu nehmen.

Daß nun die Gegner des Ministeriums gegen die Vorlage stimmten, war
keine unerwartete Erscheinung. Die liberale Partei aber, oder derjenige Theil
derselben, welcher ebenfalls dagegen stimmte, hat einen großen Fehler be¬
gangen. Diese Herren, die selbst lebhaft auf eine Steuer-Reorganisation ge¬
drungen hatten, und selbst dem Ministerium langes Zögern schuld gaben, ver¬
warfen die Vorlage, ohne im Stande zu sein, einen andern, bessern Weg an¬
zuweisen, auf welchem ihre Wünsche erreicht werden konnten. Selbst unfähig,
etwas Gutes zu Stande zu bringen, durchkreuzten sie die Pläne Anderer, weil
sie nicht das Vollkommene erreichten.

Ein Einwand wurde von allen Gegnern der Vorlage erhoben, nämlich
der: die Einkommensteuer sei nicht populär, sei dem National-Charakter zu¬
wider. Bei jeder Neuerung hört man denselben Einwand. Es ist wahr: der
Holländer hält zähe an seinen alten Gewohnheiten; es wäre aber schlimm,
und jeder Fortschritt wäre unmöglich, wenn an diesem Conservatismus jede
Neuerung scheitern sollte. Bei der Einkommensteuer ist übrigens dieser Ein¬
wand auch ganz unwahr, denn nach dem Votum der Kammer und dem da¬
durch bedingten Rücktritt des Ministeriums kommen aus allen Orten des
Landes, wo nicht gerade die Geistlichkeit terrorisirt, Kundgebungen zu Gunsten


ärmeren Bevölkerung und der Volksernährung. Dagegen würden durch die
Einkommensteuer auch gewisse Kategorien reicherer Einwohner, die bisher ver¬
hältnißmäßig sehr wenig zahlten, auf einen annähernd ganz rationellen Steuersatz
gebracht worden sein. Nun sollte man glauben — und man erwartete das auch mit
einiger Gewißheit —, die liberale Kammermehrheit würde für die Regierungs¬
vorlage stimmen, wenigstens das darin ausgesprochene Princip gutheißen.
Das ist aber nicht geschehen. Die Majorität, das heißt die Klerikalen und
die conservative Partei mit einer großen Anzahl liberaler Abgeordneter stimmten
gegen eine Einkommensteuer, gleichviel in welcher Fassung. Die Generaldebatte
daue-te zehn Tage lang, und nur wenige Mitglieder des Hauses haben sich
darin nicht hören lassen. Ein ganz buntes Gemisch von Ansichten gab sich
kund; es blieb nicht beim breiten Ausmessen der Mängel der Vorlage, sondern
auch ganz eigenthümliche Meinungen wurden geäußert. Es herrschte vielfach
der Glaube, der Steuerzahler müsse sich so einrichten können, daß er ein Mini¬
mum zu zahlen habe; es müsse in seinem Ermessen stehen, zu zahlen was er
wolle, und nicht wozu er gezwungen würde! Die Einkommensteuer führe
zum Socialismus, zur Commune! Sie greife ins Familienleben hinein. Sie
drücke zu schwer aus den geringen Stand. Andere wieder sahen in der Ein¬
kommensteuer nicht die „vollkommene" Steuer, deßhalb wollten sie das Alte,
bekanntermaßen sehr Schlechte bestehen lassen; sie konnten sich nicht dazu ent¬
schließen, das relativ Bessere zu nehmen.

Daß nun die Gegner des Ministeriums gegen die Vorlage stimmten, war
keine unerwartete Erscheinung. Die liberale Partei aber, oder derjenige Theil
derselben, welcher ebenfalls dagegen stimmte, hat einen großen Fehler be¬
gangen. Diese Herren, die selbst lebhaft auf eine Steuer-Reorganisation ge¬
drungen hatten, und selbst dem Ministerium langes Zögern schuld gaben, ver¬
warfen die Vorlage, ohne im Stande zu sein, einen andern, bessern Weg an¬
zuweisen, auf welchem ihre Wünsche erreicht werden konnten. Selbst unfähig,
etwas Gutes zu Stande zu bringen, durchkreuzten sie die Pläne Anderer, weil
sie nicht das Vollkommene erreichten.

Ein Einwand wurde von allen Gegnern der Vorlage erhoben, nämlich
der: die Einkommensteuer sei nicht populär, sei dem National-Charakter zu¬
wider. Bei jeder Neuerung hört man denselben Einwand. Es ist wahr: der
Holländer hält zähe an seinen alten Gewohnheiten; es wäre aber schlimm,
und jeder Fortschritt wäre unmöglich, wenn an diesem Conservatismus jede
Neuerung scheitern sollte. Bei der Einkommensteuer ist übrigens dieser Ein¬
wand auch ganz unwahr, denn nach dem Votum der Kammer und dem da¬
durch bedingten Rücktritt des Ministeriums kommen aus allen Orten des
Landes, wo nicht gerade die Geistlichkeit terrorisirt, Kundgebungen zu Gunsten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/505>, abgerufen am 22.07.2024.