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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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der gefallenen Regierungsvorlage und als Ausdruck des Bedauerns über die
Haltung der liberalen Partei, Diese letztere hat einen Schritt gethan, dessen
Folgen sie gar nicht berechnet hat. Zwar erklärte sie wiederholt, daß sie den
Rücktritt des Finanzministers Bluffe nicht wünsche -- an einen Rücktritt des
ganzen Ministeriums dachte sie gar nicht einmal in der Ueberzeugung, daß
das Ministerium Thorbecke unentbehrlich war --, sie gab ihm aber thatsäch¬
lich ein deutliches Mißtrauens-Votum. Thorbecke hatte die Negierung ange¬
treten mit der ausgesprochenen Absicht, eingreifende Aenderungen, wie sie von
Volk und Kammer verlangt wurden, durchzuführen.

Sobald er seine Pläne zur Ausführung bringen wollte, begegnete er dem
Widerstreben der Kammer. Was sollte er da anders thun, als abtreten?
Eine Negierung, die ihr Programm fallen läßt, verliert jede moralische Stütze,
und Thorbecke war nicht der Mann dazu, als Minister eine so precäre Stell¬
ung einzunehmen. Das Volk hatte in den letzten Jahren seine Hoffnungen
auf Thorbecke gesetzt; wurde aber seine Thätigkeit durch die Kammer paraly-
sirt, dann mußte er ihr die Verantwortlichkeit überlassen und sich zurückziehen.
Hätte er sich zur Unthätigkeit zwingen lassen, so hätte er das in ihn gesetzte
Vertrauen getäuscht.

Niemand war mehr über den Rücktritt des Ministeriums erstaunt, als die
Kammer selbst. Sie machte einige Versuche, die Minister noch zur Verant¬
wortung ihres Schrittes zu rufen; diese wehrten solches aber durch Schweigen
ad. Es ist ein merkwürdiges Manöver, dem Ministerium seinen Rücktritt
übel zu nehmen, nachdem man es dazu gezwungen hat. Es war nur der
Versuch, die Schuld von den eignen Schultern auf diejenigen Anderer zu
laden. Denn die Schuld der liberalen Partei besteht eben darin, daß sie sich
zersplittert hat, daß sie durch unzureichend motivirte Opposition ein Ministe¬
rium ihrer eignen Partei stürzte, trotz der Gewißheit, daß sie selbst kein besseres
und die andern Parteien gar kein Ministerium bilden konnten. Zudem hat
sie jeder Regierung für die nächste Zeit die Lust und Möglichkeit benommen,
den Weg der Reformen einzuschlagen, weil sie auf keine zuverlässige Majorität
wird rechnen können.

So entstand denn wieder eine Krisis, deren Ende noch nicht abzusehen
ist. Zwar hatte das Ministerium sich bereit erklärt, die laufenden Geschäfte
noch eine Zeit lang zu führen; da hat nun aber der Tod des Herrn Thor¬
becke die Lage noch bedenklicher gemacht.

Dieser Mann, I. R. Thorbecke. gehörte jedenfalls zu den bedeutendsten
Staatsmännern der Gegenwart. In den Niederlanden liegt der Schwerpunkt
der Politik im Ministerium des Innern, und in seiner Thätigkeit auf diesem
Posten besteht das große Verdienst Thorbecke's, Er war im Jahre 1798 in


der gefallenen Regierungsvorlage und als Ausdruck des Bedauerns über die
Haltung der liberalen Partei, Diese letztere hat einen Schritt gethan, dessen
Folgen sie gar nicht berechnet hat. Zwar erklärte sie wiederholt, daß sie den
Rücktritt des Finanzministers Bluffe nicht wünsche — an einen Rücktritt des
ganzen Ministeriums dachte sie gar nicht einmal in der Ueberzeugung, daß
das Ministerium Thorbecke unentbehrlich war —, sie gab ihm aber thatsäch¬
lich ein deutliches Mißtrauens-Votum. Thorbecke hatte die Negierung ange¬
treten mit der ausgesprochenen Absicht, eingreifende Aenderungen, wie sie von
Volk und Kammer verlangt wurden, durchzuführen.

Sobald er seine Pläne zur Ausführung bringen wollte, begegnete er dem
Widerstreben der Kammer. Was sollte er da anders thun, als abtreten?
Eine Negierung, die ihr Programm fallen läßt, verliert jede moralische Stütze,
und Thorbecke war nicht der Mann dazu, als Minister eine so precäre Stell¬
ung einzunehmen. Das Volk hatte in den letzten Jahren seine Hoffnungen
auf Thorbecke gesetzt; wurde aber seine Thätigkeit durch die Kammer paraly-
sirt, dann mußte er ihr die Verantwortlichkeit überlassen und sich zurückziehen.
Hätte er sich zur Unthätigkeit zwingen lassen, so hätte er das in ihn gesetzte
Vertrauen getäuscht.

Niemand war mehr über den Rücktritt des Ministeriums erstaunt, als die
Kammer selbst. Sie machte einige Versuche, die Minister noch zur Verant¬
wortung ihres Schrittes zu rufen; diese wehrten solches aber durch Schweigen
ad. Es ist ein merkwürdiges Manöver, dem Ministerium seinen Rücktritt
übel zu nehmen, nachdem man es dazu gezwungen hat. Es war nur der
Versuch, die Schuld von den eignen Schultern auf diejenigen Anderer zu
laden. Denn die Schuld der liberalen Partei besteht eben darin, daß sie sich
zersplittert hat, daß sie durch unzureichend motivirte Opposition ein Ministe¬
rium ihrer eignen Partei stürzte, trotz der Gewißheit, daß sie selbst kein besseres
und die andern Parteien gar kein Ministerium bilden konnten. Zudem hat
sie jeder Regierung für die nächste Zeit die Lust und Möglichkeit benommen,
den Weg der Reformen einzuschlagen, weil sie auf keine zuverlässige Majorität
wird rechnen können.

So entstand denn wieder eine Krisis, deren Ende noch nicht abzusehen
ist. Zwar hatte das Ministerium sich bereit erklärt, die laufenden Geschäfte
noch eine Zeit lang zu führen; da hat nun aber der Tod des Herrn Thor¬
becke die Lage noch bedenklicher gemacht.

Dieser Mann, I. R. Thorbecke. gehörte jedenfalls zu den bedeutendsten
Staatsmännern der Gegenwart. In den Niederlanden liegt der Schwerpunkt
der Politik im Ministerium des Innern, und in seiner Thätigkeit auf diesem
Posten besteht das große Verdienst Thorbecke's, Er war im Jahre 1798 in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/506>, abgerufen am 22.12.2024.