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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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niedergelegt. Die geschichtlichen Notizen, die chronologischen Anordnungen,
die Umstände, unter denen dieser oder jener Tonsatz entstanden, die Schicksale
die er hatte, wann und wo er gedruckt, wie er von Andern ausgenutzt, in
welcher Gestalt er vom Komponisten selbst neu bearbeitet und wieder ver¬
wendet wurde, über Alles dies erhalten wir die eingehendsten und zuverlässigsten
Mittheilungen.

Die Gegenwart macht an die Gründlichkeit und vollständigste Lösung einer
wissenschaftlichen Arbeit höchste Anforderungen. Aus diesem Grunde ist die
PolyHistorie für uns ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Jede Wissenschaft
theilt sich in unzählige Gebiete, deren jedes eine ganze Mannes- und
Lebenskraft bedarf, um nur annähernd erschöpfend bebaut und bearbeitet zu
werden. Wie in allen Branchen der Wissenschaften so auch in denen der
Kunst. Man muß sich in unserer Zeit so zu sagen für Einen bestimmten
Tonsetzer entscheiden, ihm fast ausschließlich Liebe, Begeisterung und Studium
entgegenbringen, ihm auf seinen verborgensten Wegen nachgehen und bis zum
letzten Takte seines Schaffens folgen, will man ihn ganz erfassen und würdigen
lernen. Bei dem bedeutenden Material, das die neuere Zeit in ihren Ver¬
öffentlichungen blosgelegt, bei den Versäumnissen, die in diesem Punkte noch
zu beklagen sind, bei der kritischen Sichtung, Sonderung und Redaction, die
alle älteren Publicationen bedürfen, ist eine solche Aufgabe gar keine geringe.
Jähns hat sich eine derartige Lebensaufgabe C. M. v. Weber gegenüber
gestellt und es wäre interessant zu erfahren, wie viele Jahre unermüdlichen
Sammelfleißes und kritischer Forschung er dieser Arbeit opferte.

Es wurde in diesen Blättern (Grenzboten 1871 I.) bereits von der von
Jähns veranstalteten Edition der Lieder Webers gesprochen. Wenige
Außenstehende vermögen wohl zu ahnen, wie sehr eine solche Arbeit zu schätzen
und wie mühsam sie ist; welch tiefes Eingehen in die Sache sie erfordert, und
welche Unmasse von Fehlern aus den alten Originalausgaben in der Regel
wegzuräumen ist, von andern wichtigen Dingen (z. B. den chronologischen An¬
gaben u. s. w.) die festzustellen sind, gar nicht zu sprechen. Leider ist diese
sehr schätzbaren Liedersammlung in letzter Zeit von allen möglichen Nach¬
druckern in ihrer jetzigen sorgfältig revidirten Gestalt in unverantwortlichster
Weise ausgebeutet worden.

Wenden wir uns nun zu dem speciellen Inhalte des in Rede stehenden
Werkes, so ist es zunächst die vorzüglich geschriebene Einleitung -- das Glaubens¬
bekenntniß des Autors über den Meister -- die unsere vollste Beachtung ver¬
dient. Sie bezeichnet, außer der bewundernswürdigen Vertrautheit mit Allem
was Weber schriftlich hinterlassen und was Andere über ihn geschrieben, die
Stellung die der Verfasser mit seinem Buche andern ähnlichen Arbeiten gegen¬
über einzunehmen gedenkt und legt Inhalt und specielle Einrichtung desselben


niedergelegt. Die geschichtlichen Notizen, die chronologischen Anordnungen,
die Umstände, unter denen dieser oder jener Tonsatz entstanden, die Schicksale
die er hatte, wann und wo er gedruckt, wie er von Andern ausgenutzt, in
welcher Gestalt er vom Komponisten selbst neu bearbeitet und wieder ver¬
wendet wurde, über Alles dies erhalten wir die eingehendsten und zuverlässigsten
Mittheilungen.

Die Gegenwart macht an die Gründlichkeit und vollständigste Lösung einer
wissenschaftlichen Arbeit höchste Anforderungen. Aus diesem Grunde ist die
PolyHistorie für uns ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Jede Wissenschaft
theilt sich in unzählige Gebiete, deren jedes eine ganze Mannes- und
Lebenskraft bedarf, um nur annähernd erschöpfend bebaut und bearbeitet zu
werden. Wie in allen Branchen der Wissenschaften so auch in denen der
Kunst. Man muß sich in unserer Zeit so zu sagen für Einen bestimmten
Tonsetzer entscheiden, ihm fast ausschließlich Liebe, Begeisterung und Studium
entgegenbringen, ihm auf seinen verborgensten Wegen nachgehen und bis zum
letzten Takte seines Schaffens folgen, will man ihn ganz erfassen und würdigen
lernen. Bei dem bedeutenden Material, das die neuere Zeit in ihren Ver¬
öffentlichungen blosgelegt, bei den Versäumnissen, die in diesem Punkte noch
zu beklagen sind, bei der kritischen Sichtung, Sonderung und Redaction, die
alle älteren Publicationen bedürfen, ist eine solche Aufgabe gar keine geringe.
Jähns hat sich eine derartige Lebensaufgabe C. M. v. Weber gegenüber
gestellt und es wäre interessant zu erfahren, wie viele Jahre unermüdlichen
Sammelfleißes und kritischer Forschung er dieser Arbeit opferte.

Es wurde in diesen Blättern (Grenzboten 1871 I.) bereits von der von
Jähns veranstalteten Edition der Lieder Webers gesprochen. Wenige
Außenstehende vermögen wohl zu ahnen, wie sehr eine solche Arbeit zu schätzen
und wie mühsam sie ist; welch tiefes Eingehen in die Sache sie erfordert, und
welche Unmasse von Fehlern aus den alten Originalausgaben in der Regel
wegzuräumen ist, von andern wichtigen Dingen (z. B. den chronologischen An¬
gaben u. s. w.) die festzustellen sind, gar nicht zu sprechen. Leider ist diese
sehr schätzbaren Liedersammlung in letzter Zeit von allen möglichen Nach¬
druckern in ihrer jetzigen sorgfältig revidirten Gestalt in unverantwortlichster
Weise ausgebeutet worden.

Wenden wir uns nun zu dem speciellen Inhalte des in Rede stehenden
Werkes, so ist es zunächst die vorzüglich geschriebene Einleitung — das Glaubens¬
bekenntniß des Autors über den Meister — die unsere vollste Beachtung ver¬
dient. Sie bezeichnet, außer der bewundernswürdigen Vertrautheit mit Allem
was Weber schriftlich hinterlassen und was Andere über ihn geschrieben, die
Stellung die der Verfasser mit seinem Buche andern ähnlichen Arbeiten gegen¬
über einzunehmen gedenkt und legt Inhalt und specielle Einrichtung desselben


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[0428] niedergelegt. Die geschichtlichen Notizen, die chronologischen Anordnungen, die Umstände, unter denen dieser oder jener Tonsatz entstanden, die Schicksale die er hatte, wann und wo er gedruckt, wie er von Andern ausgenutzt, in welcher Gestalt er vom Komponisten selbst neu bearbeitet und wieder ver¬ wendet wurde, über Alles dies erhalten wir die eingehendsten und zuverlässigsten Mittheilungen. Die Gegenwart macht an die Gründlichkeit und vollständigste Lösung einer wissenschaftlichen Arbeit höchste Anforderungen. Aus diesem Grunde ist die PolyHistorie für uns ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Jede Wissenschaft theilt sich in unzählige Gebiete, deren jedes eine ganze Mannes- und Lebenskraft bedarf, um nur annähernd erschöpfend bebaut und bearbeitet zu werden. Wie in allen Branchen der Wissenschaften so auch in denen der Kunst. Man muß sich in unserer Zeit so zu sagen für Einen bestimmten Tonsetzer entscheiden, ihm fast ausschließlich Liebe, Begeisterung und Studium entgegenbringen, ihm auf seinen verborgensten Wegen nachgehen und bis zum letzten Takte seines Schaffens folgen, will man ihn ganz erfassen und würdigen lernen. Bei dem bedeutenden Material, das die neuere Zeit in ihren Ver¬ öffentlichungen blosgelegt, bei den Versäumnissen, die in diesem Punkte noch zu beklagen sind, bei der kritischen Sichtung, Sonderung und Redaction, die alle älteren Publicationen bedürfen, ist eine solche Aufgabe gar keine geringe. Jähns hat sich eine derartige Lebensaufgabe C. M. v. Weber gegenüber gestellt und es wäre interessant zu erfahren, wie viele Jahre unermüdlichen Sammelfleißes und kritischer Forschung er dieser Arbeit opferte. Es wurde in diesen Blättern (Grenzboten 1871 I.) bereits von der von Jähns veranstalteten Edition der Lieder Webers gesprochen. Wenige Außenstehende vermögen wohl zu ahnen, wie sehr eine solche Arbeit zu schätzen und wie mühsam sie ist; welch tiefes Eingehen in die Sache sie erfordert, und welche Unmasse von Fehlern aus den alten Originalausgaben in der Regel wegzuräumen ist, von andern wichtigen Dingen (z. B. den chronologischen An¬ gaben u. s. w.) die festzustellen sind, gar nicht zu sprechen. Leider ist diese sehr schätzbaren Liedersammlung in letzter Zeit von allen möglichen Nach¬ druckern in ihrer jetzigen sorgfältig revidirten Gestalt in unverantwortlichster Weise ausgebeutet worden. Wenden wir uns nun zu dem speciellen Inhalte des in Rede stehenden Werkes, so ist es zunächst die vorzüglich geschriebene Einleitung — das Glaubens¬ bekenntniß des Autors über den Meister — die unsere vollste Beachtung ver¬ dient. Sie bezeichnet, außer der bewundernswürdigen Vertrautheit mit Allem was Weber schriftlich hinterlassen und was Andere über ihn geschrieben, die Stellung die der Verfasser mit seinem Buche andern ähnlichen Arbeiten gegen¬ über einzunehmen gedenkt und legt Inhalt und specielle Einrichtung desselben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/428>, abgerufen am 22.07.2024.