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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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strafen müssen häufig zur Anwendung kommen. Die verschiedenen Methoden,
welche man versucht hat, um diesen Uebelständen der gemeinsamen Haft zu
steuern, z. B. die Einteilung der Gefangenen in verschiedene Klassen, die
Auszeichnung der einen Klasse vor der anderen u. s. w. sind in ihrem Erfolge
mehr oder weniger hinter der Erwartung zurückgeblieben.

Auf einen Uebelstand der gemeinsamen Haft möchten wir noch insbe¬
sondere hinweisen, welcher bisher nicht nach Gebühr hervorgehoben worden
ist: wir meinen das häufige Verkennen des Beginnes von Geistes¬
krankheiten. Es ist uns wiederholt vorgekommen, daß wir bei dem
Verfahren der gerichtlichen Blödsinnigkeitserklärung Sträflinge untersuchten,
aus deren Personalacten wir die Ueberzeugung gewannen, daß die Geistes¬
krankheit viel früher aufgetreten war, als die von der Gefängnißverwaltung
abgegebene Erklärung besagte. Die Aeußerungen der Geisteskrankheit
wurden bei diesen Sträflingen lange Zeit hindurch für absichtliche Verletzung
der Hausordnung, für Widerspenstigkeit, bewußte Bosheit gehalten und mit
Disciplinarstrafen belegt, welche wegen der Erfolglosigkeit sich wiederholten
und immer strenger wurden, bis man schließlich daran dachte, daß die Sträf¬
linge vielleicht unzurechnungsfähig seien und sie deshalb von dem Arzte unter¬
suchen ließ. Mittlerweile aber war die Geisteskrankheit bis zur UnHeilbarkeit
fortgeschritten, so daß man für die Kranken nichts weiter thun konnte, als
daß man sie nach erfolgter gerichtlicher Blödsinnigkeitserklärung einer Jrren-
bewahranstalt übergab. Das Vorkommen solcher Fälle bei der gemeinsamen
Haft kann uns nicht befremden, wenn wir erwägen, wie schwierig es bei der¬
selben ist, die einzelnen Gefangenen genau zu beobachten. In Rücksicht auf
solche Fälle aber und auf das Interesse, welches die öffentliche Gesundheits¬
pflege an ihnen nimmt, müssen wir darauf dringen, daß der Gefängnißarzt
den Berathungen der Verwaltungsbeamten beiwohne, in denen das Benehmen
der Gefangenen zur Sprache kommt, denn er wird alsdann rechtzeitig auf
verdächtige Erscheinungen in dem Benehmen aufmerksam werden und Zeichen
einer beginnenden Geisteskrankheit von Vergehen gegen die Hausordnung, von
Widerspenstigkeit u. s. w. unterscheiden.

Unvergleichlich mehr als die gemeinsame Haft ist die Einzelhaft für
Erwachsene geeignet, den Ansprüchen der öffentlichen Gesundheitspflege zu
-genügen. Wir meinen nicht die ältere Methode der Einzelhaft, bei welcher
die Einsamkeit eine absolute und ununterbrochene, dem Gefangenen der An¬
blick eines Menschen, selbst der Gefängnißbeamten und das Verlassen der Zelle
gänzlich versagt war und keine andere Beschäftigung als das Lesen der Bibel
oder allenfalls auch anderer Schriften religiösen Inhalts gestattet ^wurde.
Wir meinen die neuere Methode der Einzelhaft, welche in dem zu Philadel¬
phia erbauten Zellengefängnisse eingeführt und seitdem in ähnlichen Anstalten


strafen müssen häufig zur Anwendung kommen. Die verschiedenen Methoden,
welche man versucht hat, um diesen Uebelständen der gemeinsamen Haft zu
steuern, z. B. die Einteilung der Gefangenen in verschiedene Klassen, die
Auszeichnung der einen Klasse vor der anderen u. s. w. sind in ihrem Erfolge
mehr oder weniger hinter der Erwartung zurückgeblieben.

Auf einen Uebelstand der gemeinsamen Haft möchten wir noch insbe¬
sondere hinweisen, welcher bisher nicht nach Gebühr hervorgehoben worden
ist: wir meinen das häufige Verkennen des Beginnes von Geistes¬
krankheiten. Es ist uns wiederholt vorgekommen, daß wir bei dem
Verfahren der gerichtlichen Blödsinnigkeitserklärung Sträflinge untersuchten,
aus deren Personalacten wir die Ueberzeugung gewannen, daß die Geistes¬
krankheit viel früher aufgetreten war, als die von der Gefängnißverwaltung
abgegebene Erklärung besagte. Die Aeußerungen der Geisteskrankheit
wurden bei diesen Sträflingen lange Zeit hindurch für absichtliche Verletzung
der Hausordnung, für Widerspenstigkeit, bewußte Bosheit gehalten und mit
Disciplinarstrafen belegt, welche wegen der Erfolglosigkeit sich wiederholten
und immer strenger wurden, bis man schließlich daran dachte, daß die Sträf¬
linge vielleicht unzurechnungsfähig seien und sie deshalb von dem Arzte unter¬
suchen ließ. Mittlerweile aber war die Geisteskrankheit bis zur UnHeilbarkeit
fortgeschritten, so daß man für die Kranken nichts weiter thun konnte, als
daß man sie nach erfolgter gerichtlicher Blödsinnigkeitserklärung einer Jrren-
bewahranstalt übergab. Das Vorkommen solcher Fälle bei der gemeinsamen
Haft kann uns nicht befremden, wenn wir erwägen, wie schwierig es bei der¬
selben ist, die einzelnen Gefangenen genau zu beobachten. In Rücksicht auf
solche Fälle aber und auf das Interesse, welches die öffentliche Gesundheits¬
pflege an ihnen nimmt, müssen wir darauf dringen, daß der Gefängnißarzt
den Berathungen der Verwaltungsbeamten beiwohne, in denen das Benehmen
der Gefangenen zur Sprache kommt, denn er wird alsdann rechtzeitig auf
verdächtige Erscheinungen in dem Benehmen aufmerksam werden und Zeichen
einer beginnenden Geisteskrankheit von Vergehen gegen die Hausordnung, von
Widerspenstigkeit u. s. w. unterscheiden.

Unvergleichlich mehr als die gemeinsame Haft ist die Einzelhaft für
Erwachsene geeignet, den Ansprüchen der öffentlichen Gesundheitspflege zu
-genügen. Wir meinen nicht die ältere Methode der Einzelhaft, bei welcher
die Einsamkeit eine absolute und ununterbrochene, dem Gefangenen der An¬
blick eines Menschen, selbst der Gefängnißbeamten und das Verlassen der Zelle
gänzlich versagt war und keine andere Beschäftigung als das Lesen der Bibel
oder allenfalls auch anderer Schriften religiösen Inhalts gestattet ^wurde.
Wir meinen die neuere Methode der Einzelhaft, welche in dem zu Philadel¬
phia erbauten Zellengefängnisse eingeführt und seitdem in ähnlichen Anstalten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/342>, abgerufen am 03.07.2024.