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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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geisteskranke Sträflinge oder für andere Geisteskranke bestimmt ist. Wir
dürfen wohl nicht erst daran erinnern, daß der geisteskranke Sträfling in der
Irrenanstalt aufhören müsse, Sträfling zu sein; als Geisteskranker eignet er
sich durchaus nicht für den Zweck der Strafe, denn ihm fehlt das Schuld¬
bewußtsein, er kann weder bereuen, noch den Vorsatz fassen, sich zu bessern.
Wir dürfen den "insans complet", wie ihn die Engländer nennen, der wäh¬
rend der Haft geisteskrank geworden ist, wegen seines Verbrechens ebenso wenig
strafen wollen, als den "erinünal lurmtie", der in einem geisteskranken Zu¬
stande die verbrecherische That begangen hat. Man hat über den Zeitpunkt
gestritten, in welchem man aufhören soll, einen geisteskranken Sträfling als
Sträfling zu erachten, man hat darüber gestritten, ob man dies schon dann
thun darf, wenn man noch Schuldbewußtsein bei ihm erkennt, oder erst dann,
wenn die Geisteskrankheit dermaßen überHand genommen hat, daß kein
Schuldbewußtsein mehr vorhanden ist. Dieser Streit verräth nur eine
mangelhafte Einsicht in die Bedeutung der Geistesstörung und erinnert daran,
daß der Irrthum noch nicht geschwunden sei, in Folge dessen man wähnr.
daß ein Geisteskranker auf dem einen Theile seiner Geistessphäre unzurech¬
nungsfähig, dagegen auf dem andern Theile derselben zurechnungsfähig sein
könne. Wir müssen es uns versagen, hier näher auf die theilweise Zurech¬
nungsfähigkeit Geisteskranker einzugehen, die Versicherung aber können wir
geben, daß uns noch nie ein nach einer Richtung hin unzurechnungsfähiger
Geisteskranker vorgekommen ist, welcher bei aufmerksamer Untersuchung nicht
auch nach anderen Richtungen hin, in denen er für geistesgesund galt, Ab¬
weichungen von der gesundheitsgemäßen'Beschaffenheit des Geisteslebens ver¬
rieth. Wenn man, bei einem Sträflinge, welcher unzweifelhafte Zeichen von
Geisteskrankheit verräth, noch Schuldbewußtsein vorfindet, ist man dennoch
nicht berechtigt, die Strafvollstreckung fortzusetzen; ein solches Individuum
muß man nicht strafen, sondern heilen, der Heilungsversuch aber muß, wenn
auch nur nach einer Richtung hin die Geisteskrankheit unzweifelhaft ist, un¬
verzüglich stattfinden und darf nicht bis zu dem weiteren Ausschreiten der
Geisteskrankheit verschoben werden.

Sehr wichtig für die öffentliche Gesundheitspflege ist auch das Haft¬
system, welchem erwachsene und jugendliche Gefangene unterworfen werden.
-- Durch die gemeinsame Hast für Erwachsene wird die dem Ge--
fangenen zu gewährende Vorbereitung für die Freiheit sehr erschwert. Dies
gilt von fast allen Momenten, welche jener Vorbereitung dienen. Die Luft
in den gemeinschaftlichen Arbeits- und Schlafsälen wird durch das Zusammen¬
sein so vieler Menschen verdorben, die Verführung von Gefangenen durch
andere Gefangene läßt sich nicht immer verhüten, die Einwirkung des Unter¬
richts und der Erziehung bleibt sehr oft eine unvollkommene, Disciplinar-


geisteskranke Sträflinge oder für andere Geisteskranke bestimmt ist. Wir
dürfen wohl nicht erst daran erinnern, daß der geisteskranke Sträfling in der
Irrenanstalt aufhören müsse, Sträfling zu sein; als Geisteskranker eignet er
sich durchaus nicht für den Zweck der Strafe, denn ihm fehlt das Schuld¬
bewußtsein, er kann weder bereuen, noch den Vorsatz fassen, sich zu bessern.
Wir dürfen den „insans complet", wie ihn die Engländer nennen, der wäh¬
rend der Haft geisteskrank geworden ist, wegen seines Verbrechens ebenso wenig
strafen wollen, als den „erinünal lurmtie", der in einem geisteskranken Zu¬
stande die verbrecherische That begangen hat. Man hat über den Zeitpunkt
gestritten, in welchem man aufhören soll, einen geisteskranken Sträfling als
Sträfling zu erachten, man hat darüber gestritten, ob man dies schon dann
thun darf, wenn man noch Schuldbewußtsein bei ihm erkennt, oder erst dann,
wenn die Geisteskrankheit dermaßen überHand genommen hat, daß kein
Schuldbewußtsein mehr vorhanden ist. Dieser Streit verräth nur eine
mangelhafte Einsicht in die Bedeutung der Geistesstörung und erinnert daran,
daß der Irrthum noch nicht geschwunden sei, in Folge dessen man wähnr.
daß ein Geisteskranker auf dem einen Theile seiner Geistessphäre unzurech¬
nungsfähig, dagegen auf dem andern Theile derselben zurechnungsfähig sein
könne. Wir müssen es uns versagen, hier näher auf die theilweise Zurech¬
nungsfähigkeit Geisteskranker einzugehen, die Versicherung aber können wir
geben, daß uns noch nie ein nach einer Richtung hin unzurechnungsfähiger
Geisteskranker vorgekommen ist, welcher bei aufmerksamer Untersuchung nicht
auch nach anderen Richtungen hin, in denen er für geistesgesund galt, Ab¬
weichungen von der gesundheitsgemäßen'Beschaffenheit des Geisteslebens ver¬
rieth. Wenn man, bei einem Sträflinge, welcher unzweifelhafte Zeichen von
Geisteskrankheit verräth, noch Schuldbewußtsein vorfindet, ist man dennoch
nicht berechtigt, die Strafvollstreckung fortzusetzen; ein solches Individuum
muß man nicht strafen, sondern heilen, der Heilungsversuch aber muß, wenn
auch nur nach einer Richtung hin die Geisteskrankheit unzweifelhaft ist, un¬
verzüglich stattfinden und darf nicht bis zu dem weiteren Ausschreiten der
Geisteskrankheit verschoben werden.

Sehr wichtig für die öffentliche Gesundheitspflege ist auch das Haft¬
system, welchem erwachsene und jugendliche Gefangene unterworfen werden.
— Durch die gemeinsame Hast für Erwachsene wird die dem Ge--
fangenen zu gewährende Vorbereitung für die Freiheit sehr erschwert. Dies
gilt von fast allen Momenten, welche jener Vorbereitung dienen. Die Luft
in den gemeinschaftlichen Arbeits- und Schlafsälen wird durch das Zusammen¬
sein so vieler Menschen verdorben, die Verführung von Gefangenen durch
andere Gefangene läßt sich nicht immer verhüten, die Einwirkung des Unter¬
richts und der Erziehung bleibt sehr oft eine unvollkommene, Disciplinar-


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[0341] geisteskranke Sträflinge oder für andere Geisteskranke bestimmt ist. Wir dürfen wohl nicht erst daran erinnern, daß der geisteskranke Sträfling in der Irrenanstalt aufhören müsse, Sträfling zu sein; als Geisteskranker eignet er sich durchaus nicht für den Zweck der Strafe, denn ihm fehlt das Schuld¬ bewußtsein, er kann weder bereuen, noch den Vorsatz fassen, sich zu bessern. Wir dürfen den „insans complet", wie ihn die Engländer nennen, der wäh¬ rend der Haft geisteskrank geworden ist, wegen seines Verbrechens ebenso wenig strafen wollen, als den „erinünal lurmtie", der in einem geisteskranken Zu¬ stande die verbrecherische That begangen hat. Man hat über den Zeitpunkt gestritten, in welchem man aufhören soll, einen geisteskranken Sträfling als Sträfling zu erachten, man hat darüber gestritten, ob man dies schon dann thun darf, wenn man noch Schuldbewußtsein bei ihm erkennt, oder erst dann, wenn die Geisteskrankheit dermaßen überHand genommen hat, daß kein Schuldbewußtsein mehr vorhanden ist. Dieser Streit verräth nur eine mangelhafte Einsicht in die Bedeutung der Geistesstörung und erinnert daran, daß der Irrthum noch nicht geschwunden sei, in Folge dessen man wähnr. daß ein Geisteskranker auf dem einen Theile seiner Geistessphäre unzurech¬ nungsfähig, dagegen auf dem andern Theile derselben zurechnungsfähig sein könne. Wir müssen es uns versagen, hier näher auf die theilweise Zurech¬ nungsfähigkeit Geisteskranker einzugehen, die Versicherung aber können wir geben, daß uns noch nie ein nach einer Richtung hin unzurechnungsfähiger Geisteskranker vorgekommen ist, welcher bei aufmerksamer Untersuchung nicht auch nach anderen Richtungen hin, in denen er für geistesgesund galt, Ab¬ weichungen von der gesundheitsgemäßen'Beschaffenheit des Geisteslebens ver¬ rieth. Wenn man, bei einem Sträflinge, welcher unzweifelhafte Zeichen von Geisteskrankheit verräth, noch Schuldbewußtsein vorfindet, ist man dennoch nicht berechtigt, die Strafvollstreckung fortzusetzen; ein solches Individuum muß man nicht strafen, sondern heilen, der Heilungsversuch aber muß, wenn auch nur nach einer Richtung hin die Geisteskrankheit unzweifelhaft ist, un¬ verzüglich stattfinden und darf nicht bis zu dem weiteren Ausschreiten der Geisteskrankheit verschoben werden. Sehr wichtig für die öffentliche Gesundheitspflege ist auch das Haft¬ system, welchem erwachsene und jugendliche Gefangene unterworfen werden. — Durch die gemeinsame Hast für Erwachsene wird die dem Ge-- fangenen zu gewährende Vorbereitung für die Freiheit sehr erschwert. Dies gilt von fast allen Momenten, welche jener Vorbereitung dienen. Die Luft in den gemeinschaftlichen Arbeits- und Schlafsälen wird durch das Zusammen¬ sein so vieler Menschen verdorben, die Verführung von Gefangenen durch andere Gefangene läßt sich nicht immer verhüten, die Einwirkung des Unter¬ richts und der Erziehung bleibt sehr oft eine unvollkommene, Disciplinar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/341>, abgerufen am 03.07.2024.