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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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kommt der Heldin ihre Liebe selbst eigentlich erst in Folge wiederholter ner¬
vöser Krankheitszufälle zum Bewußtsein; die Heilung (hoffentlich ohne Rück-
fall) erfolgt, sobald der junge Mann zur Erkenntniß kommt, daß er geliebt
wird, sich Gegenliebe zu empfinden veranlaßt sieht, und die Einwilligung der
Angehörigen der jungen Dame erfolgt ist. Und dieses Fräulein ist noch eine
der bedeutenderen jugendlichen Erscheinungen der neuen Komödie. Es ist, als ob den
Dichtern, die doch sonst etwas darin suchen, die Regungen des Herzens zu
analysiren, das Verständniß für die Gefühle einer jungfräulichen Mädchen¬
seele eben so fremd wären wie ihren blasirten Liebhabern, die wenn sie der pi¬
kanten Reize der Deal-Monde überdrüssig sind, in dem Verhältniß zu einer
verheiratheten Frau eine noch pikantere Zerstreuung suchen, um endlich, wenn
die Zeit gekommen ist, in den Ehestand zu treten, der Naivetät ihrer Auser¬
korenen eine reizende Seite abzugewinnen. Diese langweiligen Liebschaften
zwischen Rouös und Pensionsdamen weissagen eben so langweilige Ehen
und die lange Weile führt, wie Alexander Dumas in der Diana von Lys
treffend darstellt, zuerst zur Entfremdung. Gleichgültigkeit und dann weiter
auf den Pfad der Schuld bis zur völligen Zerrüttung des ehelichen Ver¬
hältnisses.

Um diese ehelichen Zerrüttungen in ihrer schlimmsten Gestalt dreht sich
denn auch ein großer Theil der Dramen. Nutenberg hat gewiß Recht, wenn
er diese Erscheinung daraus erklärt, "daß in Frankreich, wo die klösterliche
Pensionats-Erziehung dem weiblichen Herzen die Ehe als das Symbol der
ersten und absolutesten geselligen Freiheit erscheinen läßt, die eheliche Liebe
einen geringeren Werth hat, als diesseit des Rheins und daß in Folge
dessen der Ehebruch den Galliern weniger moralisch verwerflich oder gewisser¬
maßen natürlicher erscheint, als uns." Die Bemerkung ist eben so richtig, wie
die Alexander Dumas' in Diana von Lys (dem Romane), daß die Mehrzahl
der pflichtvergessenen Frauen aus langer Weile und geistiger Trägheit, die
zum Theil eine Folge der schlechten Erziehung sei, ohne alle Leidenschaft sich
in unsittliche Verhältnisse verlocken lassen. Aber die Nichtigkeit der Bemerkung
rechtfertigt es keineswegs, daß die Dramatiker die Zerrüttung der ehelichen
Verhältnisse ihren Zuschauern als etwas Natürliches, Selbstverständliches vor
Augen führen. Es beweist dies eben nur, daß ihre Gestaltungsgabe nicht
über die photographische Nachbildung der Wirklichkeit hinauskommt, daß es
ihr an der Kraft fehlt, die wahrhaft menschliche Natur, wie sie doch auch von
den verderbtesten und verbildetsten gesellschaftlichen Zuständen nicht ganz erstickt
werden kann, zu erfassen und zur Darstellung zu bringen. Sie werden selbst
so völlig von dem Eindrücken der sie umgebenden Welt beherrscht, daß sie die
Dinge und Personen nur noch vom Pariser Standpunkt aus betrachten
können, gerade wie ihrem Publicum Alles ungenießbar erscheint, was-nicht


kommt der Heldin ihre Liebe selbst eigentlich erst in Folge wiederholter ner¬
vöser Krankheitszufälle zum Bewußtsein; die Heilung (hoffentlich ohne Rück-
fall) erfolgt, sobald der junge Mann zur Erkenntniß kommt, daß er geliebt
wird, sich Gegenliebe zu empfinden veranlaßt sieht, und die Einwilligung der
Angehörigen der jungen Dame erfolgt ist. Und dieses Fräulein ist noch eine
der bedeutenderen jugendlichen Erscheinungen der neuen Komödie. Es ist, als ob den
Dichtern, die doch sonst etwas darin suchen, die Regungen des Herzens zu
analysiren, das Verständniß für die Gefühle einer jungfräulichen Mädchen¬
seele eben so fremd wären wie ihren blasirten Liebhabern, die wenn sie der pi¬
kanten Reize der Deal-Monde überdrüssig sind, in dem Verhältniß zu einer
verheiratheten Frau eine noch pikantere Zerstreuung suchen, um endlich, wenn
die Zeit gekommen ist, in den Ehestand zu treten, der Naivetät ihrer Auser¬
korenen eine reizende Seite abzugewinnen. Diese langweiligen Liebschaften
zwischen Rouös und Pensionsdamen weissagen eben so langweilige Ehen
und die lange Weile führt, wie Alexander Dumas in der Diana von Lys
treffend darstellt, zuerst zur Entfremdung. Gleichgültigkeit und dann weiter
auf den Pfad der Schuld bis zur völligen Zerrüttung des ehelichen Ver¬
hältnisses.

Um diese ehelichen Zerrüttungen in ihrer schlimmsten Gestalt dreht sich
denn auch ein großer Theil der Dramen. Nutenberg hat gewiß Recht, wenn
er diese Erscheinung daraus erklärt, „daß in Frankreich, wo die klösterliche
Pensionats-Erziehung dem weiblichen Herzen die Ehe als das Symbol der
ersten und absolutesten geselligen Freiheit erscheinen läßt, die eheliche Liebe
einen geringeren Werth hat, als diesseit des Rheins und daß in Folge
dessen der Ehebruch den Galliern weniger moralisch verwerflich oder gewisser¬
maßen natürlicher erscheint, als uns." Die Bemerkung ist eben so richtig, wie
die Alexander Dumas' in Diana von Lys (dem Romane), daß die Mehrzahl
der pflichtvergessenen Frauen aus langer Weile und geistiger Trägheit, die
zum Theil eine Folge der schlechten Erziehung sei, ohne alle Leidenschaft sich
in unsittliche Verhältnisse verlocken lassen. Aber die Nichtigkeit der Bemerkung
rechtfertigt es keineswegs, daß die Dramatiker die Zerrüttung der ehelichen
Verhältnisse ihren Zuschauern als etwas Natürliches, Selbstverständliches vor
Augen führen. Es beweist dies eben nur, daß ihre Gestaltungsgabe nicht
über die photographische Nachbildung der Wirklichkeit hinauskommt, daß es
ihr an der Kraft fehlt, die wahrhaft menschliche Natur, wie sie doch auch von
den verderbtesten und verbildetsten gesellschaftlichen Zuständen nicht ganz erstickt
werden kann, zu erfassen und zur Darstellung zu bringen. Sie werden selbst
so völlig von dem Eindrücken der sie umgebenden Welt beherrscht, daß sie die
Dinge und Personen nur noch vom Pariser Standpunkt aus betrachten
können, gerade wie ihrem Publicum Alles ungenießbar erscheint, was-nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/338>, abgerufen am 22.07.2024.