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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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aufs genaueste das Pariser Leben wiederspiegelt, was nicht, wie Veuillot
sagen würde, die vllours I^ris athmet. Sardon als junger Anfänger
wagte es, das harmlose deutsche Studentenleben aus die Bühne zu bringen,
fiel aber damit kläglich durch, und lernte, daß man, um den Parisern zu ge¬
fallen, Pariser sein muß.

Diese Wechselwirkung zwischen Kunst und Publicum ist in Frankreich
für Kunst und Leben gleich verderblich geworden. In der Kunst, wie in der
Politik ist vor allem die Selbstständigkeit, die Originalität, das Abweichen
von der Schablone verpönt; wer vom Gewöhnlichen abweichen will, muß zu
den äußersten Reizmitteln greifen, er muß auf die Nerven, nicht auf das
Denkvermögen zu wirken suchen. Denn neben dem Gewöhnlichen hat nur
noch das Ungeheuerliche in Victor Hugo's Manier Bürgerrecht. Wer das
Monströse nicht darstellen will oder kann, der muß dem Publicum die alten
Bekannten und Freunde, von den Boulevards, Kaffeehäusern und Salons
vorführen. Bei aller Prätension stehen die französischen Dramen auf der
Stufe des bürgerlichen Schauspiels, nur daß die Helden und Heldinnen nicht
der ehrbaren Classe der Pfarrer, Commerzienräthe u. f. w., sondern der sehr
zweideutigen Classe der Abenteurer, Non6s, Speculanten und der Deal-Monde
angehören: eine Gesellschaft, die weder des schwarzen Affects noch des heitern
Humors fähig ist.

Ueber diese Sphäre will der dramatische Dichter sich nicht erheben; sein
Publicum hält ihn in dem engen Kreise gefangen; es würde jeden Aufschwung
über denselben, um mit Montjoye zu sprechen, blau finden. Sollte
aber der begabte Dichter auf die Gefahr hin, Anfangs unverstanden zu blei¬
ben, nicht doch wagen, auch eine edlere, freiere Menschlichkeit, als das haupt¬
städtische Treiben sie zeigt, auf die Bühne zu bringen? War es nicht in
Deutschland einst die Kunst, die zuerst einen vollen Strom frischen, idealen
Lebens in eine versumpfte, verkommene Wirklichkeit führte? Wenn Frankreich,
um sich aus tiefstem Falle und Verfalle zu heben, der Mitwirkung aller
Kräfte bedarf, so ergeht vor Allem an seine Bühnendichter die Aufforderung,
dem Kranken das Bild gesunder Zustände zu zeigen. Es giebt noch eine
ehrenwerthe bürgerliche Schicht selbst in der hauptstädtischen Bevölkerung, die
aber bei dem allgemein bestehenden Mangel an Selbstständigkeit des Charakters
und moralischem Muth nicht im Stande ist, den Eindrücken, welche sie von
der Bühne empfängt, nachhaltigen Widerstand entgegenzusetzen. Auf der
Kräftigung dieser breiten Schicht beruht die Zukunft Frankreichs, zu dessen
Wiedergeburt die Bühne mitzuwirken vermag, wenn sie ihr Publicum aus
dem Sumpf des Pariser Modelcbens in die höhere Sphäre reiner Mensch¬
lichkeit erhebt. In Betreff der Classisicirung der verschiedenen Gattungen des
modernen Dramas, sowie der Charakteristik der einzelnen Dichter verweisen


aufs genaueste das Pariser Leben wiederspiegelt, was nicht, wie Veuillot
sagen würde, die vllours I^ris athmet. Sardon als junger Anfänger
wagte es, das harmlose deutsche Studentenleben aus die Bühne zu bringen,
fiel aber damit kläglich durch, und lernte, daß man, um den Parisern zu ge¬
fallen, Pariser sein muß.

Diese Wechselwirkung zwischen Kunst und Publicum ist in Frankreich
für Kunst und Leben gleich verderblich geworden. In der Kunst, wie in der
Politik ist vor allem die Selbstständigkeit, die Originalität, das Abweichen
von der Schablone verpönt; wer vom Gewöhnlichen abweichen will, muß zu
den äußersten Reizmitteln greifen, er muß auf die Nerven, nicht auf das
Denkvermögen zu wirken suchen. Denn neben dem Gewöhnlichen hat nur
noch das Ungeheuerliche in Victor Hugo's Manier Bürgerrecht. Wer das
Monströse nicht darstellen will oder kann, der muß dem Publicum die alten
Bekannten und Freunde, von den Boulevards, Kaffeehäusern und Salons
vorführen. Bei aller Prätension stehen die französischen Dramen auf der
Stufe des bürgerlichen Schauspiels, nur daß die Helden und Heldinnen nicht
der ehrbaren Classe der Pfarrer, Commerzienräthe u. f. w., sondern der sehr
zweideutigen Classe der Abenteurer, Non6s, Speculanten und der Deal-Monde
angehören: eine Gesellschaft, die weder des schwarzen Affects noch des heitern
Humors fähig ist.

Ueber diese Sphäre will der dramatische Dichter sich nicht erheben; sein
Publicum hält ihn in dem engen Kreise gefangen; es würde jeden Aufschwung
über denselben, um mit Montjoye zu sprechen, blau finden. Sollte
aber der begabte Dichter auf die Gefahr hin, Anfangs unverstanden zu blei¬
ben, nicht doch wagen, auch eine edlere, freiere Menschlichkeit, als das haupt¬
städtische Treiben sie zeigt, auf die Bühne zu bringen? War es nicht in
Deutschland einst die Kunst, die zuerst einen vollen Strom frischen, idealen
Lebens in eine versumpfte, verkommene Wirklichkeit führte? Wenn Frankreich,
um sich aus tiefstem Falle und Verfalle zu heben, der Mitwirkung aller
Kräfte bedarf, so ergeht vor Allem an seine Bühnendichter die Aufforderung,
dem Kranken das Bild gesunder Zustände zu zeigen. Es giebt noch eine
ehrenwerthe bürgerliche Schicht selbst in der hauptstädtischen Bevölkerung, die
aber bei dem allgemein bestehenden Mangel an Selbstständigkeit des Charakters
und moralischem Muth nicht im Stande ist, den Eindrücken, welche sie von
der Bühne empfängt, nachhaltigen Widerstand entgegenzusetzen. Auf der
Kräftigung dieser breiten Schicht beruht die Zukunft Frankreichs, zu dessen
Wiedergeburt die Bühne mitzuwirken vermag, wenn sie ihr Publicum aus
dem Sumpf des Pariser Modelcbens in die höhere Sphäre reiner Mensch¬
lichkeit erhebt. In Betreff der Classisicirung der verschiedenen Gattungen des
modernen Dramas, sowie der Charakteristik der einzelnen Dichter verweisen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/339>, abgerufen am 03.07.2024.