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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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tungen, die nicht selten der Tiefe der Seele entquollen, oft aber die innere
Leere und Nüchternheit nur dürftig mit einer farbenprächtigen Rhetorik ver¬
hüllten.

Die Folge davon ist, daß ihre Gestaltungen weder durch plastische Abge¬
schlossenheit die Phantasie befriedigen, noch durch Tiefe des Gehalts, Kraft
der Leidenschaft, Wahrheit und Unmittelbarkeit des Gefühls den Geist des
Lesers fesseln. Heben wir ein Beispiel hervor. Die Franzosen sind Meister
in der genauen, alle Einzelheiten dem Leser vor Augen führenden Beschrei¬
bung äußerer Gegenstände, z. B. des Landschaftlichen: ihre Prosa ist daher,
was Anschaulichkeit, Klarheit, Durchsichtigkeit betrifft, sowohl in der Er¬
zählung wie in der Schilderung musterhaft, und hat, wo sie, wie z. B. in
der Geschichte, durch gewissenhafte Forschung unterstützt wurde, eine Anzahl
von Meisterwerken ersten Ranges hervorgebracht. Aber für die dichterische
Schilderung reicht diese dem französischen Genius und der französischen
Sprache eigenthümliche und durch die Arbeit von Jahrhunderten ausgebildete
Begabung nicht aus. Was wir von einem dichterischen Landschaftsbilde vor
Allem verlangen, das ist der Reflex des Wahrgenommenen in der Seele des
Dichters, Das äußere Bild, in wenigen großen Zügen plastisch hingestellt,
soll von dem Hauch der dichterischen Stimmung durchdrungen sein. Die ge¬
naueste, glänzendste Detailmalerei vermag uns aber weder ein plastisches Bild
zu geben, noch eine Stimmung in uns zu erwecken. Wie aber machen es die
französischen Dichter? Sie schildern die Einzelheiten (wie z. B. mit beson¬
derer Kunst Lamartine im Jocelyn) meisterhaft, und durchwehen diese Be¬
schreibung mit oft sehr geistreichen, schönen, gefühlvollen Reflexionen. Aber
Beschreibung und Betrachtung sind nur mechanisch verbunden. Die Einzel¬
heiten schließen sich weder zu einem plastischen Bilde zusammen, noch wird
die Schilderung von dem stimmungsvollen Hauche durchweht, der den Leser
befähigt, mit dem Dichter zu empfinden, zugleich aber seine Phantasie heraus¬
fordert, reproducirend die Einzelheiten des vom Dichter in großen Umrissen
hingeworfenen Bildes zu ergänzen. Man vergleiche die schönste Schilderung
Lamartine's mit einem Goethe'schen Naturbilde, einem jener kleinen Lieder,
in denen in dem engen Rahmen weniger Zeilen ein weites Naturbild uns
vor die Seele tritt, oder etwa mit der den westöstlichen Divan einleitenden
Hegire, die in einer Reihe in großen Zügen entworfener Bilder Geschichte,
Landschaft, Leben und Poesie des Orients aufrollt, und in der der Dichter
uns in Wahrheit "Patriarchenluft" kosten läßt.

Schlimmer noch als das Ueberwiegen der Reflexion, deren nachtheiliger
Einfluß auf gewisse Gattungen beschränkt blieb, wirkte auf die Entwickelung
der Kunst die Uebertreibung und der eng mit ihr zusammenhängende Cultus
des Häßlichen. In dieser Art von Erhebung über die gemeine Wirklichkeit


tungen, die nicht selten der Tiefe der Seele entquollen, oft aber die innere
Leere und Nüchternheit nur dürftig mit einer farbenprächtigen Rhetorik ver¬
hüllten.

Die Folge davon ist, daß ihre Gestaltungen weder durch plastische Abge¬
schlossenheit die Phantasie befriedigen, noch durch Tiefe des Gehalts, Kraft
der Leidenschaft, Wahrheit und Unmittelbarkeit des Gefühls den Geist des
Lesers fesseln. Heben wir ein Beispiel hervor. Die Franzosen sind Meister
in der genauen, alle Einzelheiten dem Leser vor Augen führenden Beschrei¬
bung äußerer Gegenstände, z. B. des Landschaftlichen: ihre Prosa ist daher,
was Anschaulichkeit, Klarheit, Durchsichtigkeit betrifft, sowohl in der Er¬
zählung wie in der Schilderung musterhaft, und hat, wo sie, wie z. B. in
der Geschichte, durch gewissenhafte Forschung unterstützt wurde, eine Anzahl
von Meisterwerken ersten Ranges hervorgebracht. Aber für die dichterische
Schilderung reicht diese dem französischen Genius und der französischen
Sprache eigenthümliche und durch die Arbeit von Jahrhunderten ausgebildete
Begabung nicht aus. Was wir von einem dichterischen Landschaftsbilde vor
Allem verlangen, das ist der Reflex des Wahrgenommenen in der Seele des
Dichters, Das äußere Bild, in wenigen großen Zügen plastisch hingestellt,
soll von dem Hauch der dichterischen Stimmung durchdrungen sein. Die ge¬
naueste, glänzendste Detailmalerei vermag uns aber weder ein plastisches Bild
zu geben, noch eine Stimmung in uns zu erwecken. Wie aber machen es die
französischen Dichter? Sie schildern die Einzelheiten (wie z. B. mit beson¬
derer Kunst Lamartine im Jocelyn) meisterhaft, und durchwehen diese Be¬
schreibung mit oft sehr geistreichen, schönen, gefühlvollen Reflexionen. Aber
Beschreibung und Betrachtung sind nur mechanisch verbunden. Die Einzel¬
heiten schließen sich weder zu einem plastischen Bilde zusammen, noch wird
die Schilderung von dem stimmungsvollen Hauche durchweht, der den Leser
befähigt, mit dem Dichter zu empfinden, zugleich aber seine Phantasie heraus¬
fordert, reproducirend die Einzelheiten des vom Dichter in großen Umrissen
hingeworfenen Bildes zu ergänzen. Man vergleiche die schönste Schilderung
Lamartine's mit einem Goethe'schen Naturbilde, einem jener kleinen Lieder,
in denen in dem engen Rahmen weniger Zeilen ein weites Naturbild uns
vor die Seele tritt, oder etwa mit der den westöstlichen Divan einleitenden
Hegire, die in einer Reihe in großen Zügen entworfener Bilder Geschichte,
Landschaft, Leben und Poesie des Orients aufrollt, und in der der Dichter
uns in Wahrheit „Patriarchenluft" kosten läßt.

Schlimmer noch als das Ueberwiegen der Reflexion, deren nachtheiliger
Einfluß auf gewisse Gattungen beschränkt blieb, wirkte auf die Entwickelung
der Kunst die Uebertreibung und der eng mit ihr zusammenhängende Cultus
des Häßlichen. In dieser Art von Erhebung über die gemeine Wirklichkeit


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[0333] tungen, die nicht selten der Tiefe der Seele entquollen, oft aber die innere Leere und Nüchternheit nur dürftig mit einer farbenprächtigen Rhetorik ver¬ hüllten. Die Folge davon ist, daß ihre Gestaltungen weder durch plastische Abge¬ schlossenheit die Phantasie befriedigen, noch durch Tiefe des Gehalts, Kraft der Leidenschaft, Wahrheit und Unmittelbarkeit des Gefühls den Geist des Lesers fesseln. Heben wir ein Beispiel hervor. Die Franzosen sind Meister in der genauen, alle Einzelheiten dem Leser vor Augen führenden Beschrei¬ bung äußerer Gegenstände, z. B. des Landschaftlichen: ihre Prosa ist daher, was Anschaulichkeit, Klarheit, Durchsichtigkeit betrifft, sowohl in der Er¬ zählung wie in der Schilderung musterhaft, und hat, wo sie, wie z. B. in der Geschichte, durch gewissenhafte Forschung unterstützt wurde, eine Anzahl von Meisterwerken ersten Ranges hervorgebracht. Aber für die dichterische Schilderung reicht diese dem französischen Genius und der französischen Sprache eigenthümliche und durch die Arbeit von Jahrhunderten ausgebildete Begabung nicht aus. Was wir von einem dichterischen Landschaftsbilde vor Allem verlangen, das ist der Reflex des Wahrgenommenen in der Seele des Dichters, Das äußere Bild, in wenigen großen Zügen plastisch hingestellt, soll von dem Hauch der dichterischen Stimmung durchdrungen sein. Die ge¬ naueste, glänzendste Detailmalerei vermag uns aber weder ein plastisches Bild zu geben, noch eine Stimmung in uns zu erwecken. Wie aber machen es die französischen Dichter? Sie schildern die Einzelheiten (wie z. B. mit beson¬ derer Kunst Lamartine im Jocelyn) meisterhaft, und durchwehen diese Be¬ schreibung mit oft sehr geistreichen, schönen, gefühlvollen Reflexionen. Aber Beschreibung und Betrachtung sind nur mechanisch verbunden. Die Einzel¬ heiten schließen sich weder zu einem plastischen Bilde zusammen, noch wird die Schilderung von dem stimmungsvollen Hauche durchweht, der den Leser befähigt, mit dem Dichter zu empfinden, zugleich aber seine Phantasie heraus¬ fordert, reproducirend die Einzelheiten des vom Dichter in großen Umrissen hingeworfenen Bildes zu ergänzen. Man vergleiche die schönste Schilderung Lamartine's mit einem Goethe'schen Naturbilde, einem jener kleinen Lieder, in denen in dem engen Rahmen weniger Zeilen ein weites Naturbild uns vor die Seele tritt, oder etwa mit der den westöstlichen Divan einleitenden Hegire, die in einer Reihe in großen Zügen entworfener Bilder Geschichte, Landschaft, Leben und Poesie des Orients aufrollt, und in der der Dichter uns in Wahrheit „Patriarchenluft" kosten läßt. Schlimmer noch als das Ueberwiegen der Reflexion, deren nachtheiliger Einfluß auf gewisse Gattungen beschränkt blieb, wirkte auf die Entwickelung der Kunst die Uebertreibung und der eng mit ihr zusammenhängende Cultus des Häßlichen. In dieser Art von Erhebung über die gemeine Wirklichkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/333>, abgerufen am 24.08.2024.