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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Mischen Mantel umzuhängen. Die Tendenz, die zwischen Hoch und Niedrig,
Reich und Arm bestehenden Gegensätze auszugleichen, lag Sue durchaus fern;
er speculirte auf den verdorbenen Geschmack des Publicums; und um diesen
zu befriedigen, riß er, so weit es in seiner Macht stand, unbedenklich die
Schranken nieder, durch welche die Familie sich vor dem Andringen der jeder
festen auf alter Sitte beruhenden gesellschaftlichen Ordnung feindlichen Ele¬
mente schützt.

Mit dieser verhängnißvollen gesellschaftlichen Verirrung, die unter dem
Kaiserthum einen kaum überschreitbaren Höhepunkt erreichte, traf nun die
nicht minder verhängnisvolle Entartung zusammen, der die Literatur und
Kunst, nachdem sie die Fesseln der Classicität abgeworfen, allmählig anheim¬
fiel: eine Entartung, von der Sue nicht das erste Beispiel bietet. Gewiß be¬
zeichnete der Bruch mit der steifen und geschnörkelten Unnatur und falschen
Idealität des Classicismus einen unermeßlichen Fortschritt. Aber es zeigte
sich nach einer kurzen glänzenden Blüthezeit der Romantik, daß der Franzose
der Regel auch in der Kunst bedarf, um sich nicht ins Regellose, in die voll¬
ständigste ästhetische Anarchie zu verlieren. Es läßt sich die Romantik, na¬
türlich ohne damit ihren Begriff zu erschöpfen, als eine Reaction der Natur
gegen die conventionelle mit dem Schein der Idealität sich brüstende Un¬
natur bezeichnen -- und in dieser Beziehung sind bereits Rousseau und die
' um ihn sich gruppirenden Schriftsteller als Vorläufer der Romantiker zu be¬
trachten. Aber indem man die Natur an die Stelle der Convenienz setzte,
fühlte man doch auch zugleich, daß die Kunst die Wirklichkeit zu idealisiren
habe, daß die poetische Wahrheit nichts gleichbedeutend sei mit der natürlichen
Wirklichkeit. Man begriff sehr wohl, daß der Classicismus nicht eigentlich
an dem ihm innewohnenden idealen Element sich abgenutzt hatte, sondern an
der Unnatur, dem conventionellen Formalismus, dem er in dem Ringen nach
Idealität verfallen war. Des Idealismus selbst aber konnte die romantische
Kunst so wenig wie die classische entbehren.

Aber gerade an und in dem Streben nach dem Idealen ist die roman¬
tische Kunst ebenso gescheitert, wie die classische. Hatte der Classicismus die
Idealität in der Verbannung des Natürlichen aus der Kunst, in der Ein¬
zwängung der Sprache, der Gefühle, der Leidenschaften unter das eine jede
freie Bewegung des dichterischen Geistes erstickende unverletzbare Gesetz gesucht,
hatte er die Kunst gerade ebenso einer akademischen, wie Ludwig der Vier¬
zehnte die Gesellschaft einer höfischen Etikette unterworfen: so suchte die Ro¬
mantik, nachdem sie daK Recht der Natur der willkürlichen Regel gegenüber
zur Anerkennung gebracht, das Kunstideal theils durch die Uebertreibung und
Verzerrung der Natur ins Ungeheuerliche zu verwirklichen, theils aber verlief
sie sich, um einen idealen Inhalt zu gewinnen, in Reflexionen und Betrach-


Mischen Mantel umzuhängen. Die Tendenz, die zwischen Hoch und Niedrig,
Reich und Arm bestehenden Gegensätze auszugleichen, lag Sue durchaus fern;
er speculirte auf den verdorbenen Geschmack des Publicums; und um diesen
zu befriedigen, riß er, so weit es in seiner Macht stand, unbedenklich die
Schranken nieder, durch welche die Familie sich vor dem Andringen der jeder
festen auf alter Sitte beruhenden gesellschaftlichen Ordnung feindlichen Ele¬
mente schützt.

Mit dieser verhängnißvollen gesellschaftlichen Verirrung, die unter dem
Kaiserthum einen kaum überschreitbaren Höhepunkt erreichte, traf nun die
nicht minder verhängnisvolle Entartung zusammen, der die Literatur und
Kunst, nachdem sie die Fesseln der Classicität abgeworfen, allmählig anheim¬
fiel: eine Entartung, von der Sue nicht das erste Beispiel bietet. Gewiß be¬
zeichnete der Bruch mit der steifen und geschnörkelten Unnatur und falschen
Idealität des Classicismus einen unermeßlichen Fortschritt. Aber es zeigte
sich nach einer kurzen glänzenden Blüthezeit der Romantik, daß der Franzose
der Regel auch in der Kunst bedarf, um sich nicht ins Regellose, in die voll¬
ständigste ästhetische Anarchie zu verlieren. Es läßt sich die Romantik, na¬
türlich ohne damit ihren Begriff zu erschöpfen, als eine Reaction der Natur
gegen die conventionelle mit dem Schein der Idealität sich brüstende Un¬
natur bezeichnen — und in dieser Beziehung sind bereits Rousseau und die
' um ihn sich gruppirenden Schriftsteller als Vorläufer der Romantiker zu be¬
trachten. Aber indem man die Natur an die Stelle der Convenienz setzte,
fühlte man doch auch zugleich, daß die Kunst die Wirklichkeit zu idealisiren
habe, daß die poetische Wahrheit nichts gleichbedeutend sei mit der natürlichen
Wirklichkeit. Man begriff sehr wohl, daß der Classicismus nicht eigentlich
an dem ihm innewohnenden idealen Element sich abgenutzt hatte, sondern an
der Unnatur, dem conventionellen Formalismus, dem er in dem Ringen nach
Idealität verfallen war. Des Idealismus selbst aber konnte die romantische
Kunst so wenig wie die classische entbehren.

Aber gerade an und in dem Streben nach dem Idealen ist die roman¬
tische Kunst ebenso gescheitert, wie die classische. Hatte der Classicismus die
Idealität in der Verbannung des Natürlichen aus der Kunst, in der Ein¬
zwängung der Sprache, der Gefühle, der Leidenschaften unter das eine jede
freie Bewegung des dichterischen Geistes erstickende unverletzbare Gesetz gesucht,
hatte er die Kunst gerade ebenso einer akademischen, wie Ludwig der Vier¬
zehnte die Gesellschaft einer höfischen Etikette unterworfen: so suchte die Ro¬
mantik, nachdem sie daK Recht der Natur der willkürlichen Regel gegenüber
zur Anerkennung gebracht, das Kunstideal theils durch die Uebertreibung und
Verzerrung der Natur ins Ungeheuerliche zu verwirklichen, theils aber verlief
sie sich, um einen idealen Inhalt zu gewinnen, in Reflexionen und Betrach-


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[0332] Mischen Mantel umzuhängen. Die Tendenz, die zwischen Hoch und Niedrig, Reich und Arm bestehenden Gegensätze auszugleichen, lag Sue durchaus fern; er speculirte auf den verdorbenen Geschmack des Publicums; und um diesen zu befriedigen, riß er, so weit es in seiner Macht stand, unbedenklich die Schranken nieder, durch welche die Familie sich vor dem Andringen der jeder festen auf alter Sitte beruhenden gesellschaftlichen Ordnung feindlichen Ele¬ mente schützt. Mit dieser verhängnißvollen gesellschaftlichen Verirrung, die unter dem Kaiserthum einen kaum überschreitbaren Höhepunkt erreichte, traf nun die nicht minder verhängnisvolle Entartung zusammen, der die Literatur und Kunst, nachdem sie die Fesseln der Classicität abgeworfen, allmählig anheim¬ fiel: eine Entartung, von der Sue nicht das erste Beispiel bietet. Gewiß be¬ zeichnete der Bruch mit der steifen und geschnörkelten Unnatur und falschen Idealität des Classicismus einen unermeßlichen Fortschritt. Aber es zeigte sich nach einer kurzen glänzenden Blüthezeit der Romantik, daß der Franzose der Regel auch in der Kunst bedarf, um sich nicht ins Regellose, in die voll¬ ständigste ästhetische Anarchie zu verlieren. Es läßt sich die Romantik, na¬ türlich ohne damit ihren Begriff zu erschöpfen, als eine Reaction der Natur gegen die conventionelle mit dem Schein der Idealität sich brüstende Un¬ natur bezeichnen — und in dieser Beziehung sind bereits Rousseau und die ' um ihn sich gruppirenden Schriftsteller als Vorläufer der Romantiker zu be¬ trachten. Aber indem man die Natur an die Stelle der Convenienz setzte, fühlte man doch auch zugleich, daß die Kunst die Wirklichkeit zu idealisiren habe, daß die poetische Wahrheit nichts gleichbedeutend sei mit der natürlichen Wirklichkeit. Man begriff sehr wohl, daß der Classicismus nicht eigentlich an dem ihm innewohnenden idealen Element sich abgenutzt hatte, sondern an der Unnatur, dem conventionellen Formalismus, dem er in dem Ringen nach Idealität verfallen war. Des Idealismus selbst aber konnte die romantische Kunst so wenig wie die classische entbehren. Aber gerade an und in dem Streben nach dem Idealen ist die roman¬ tische Kunst ebenso gescheitert, wie die classische. Hatte der Classicismus die Idealität in der Verbannung des Natürlichen aus der Kunst, in der Ein¬ zwängung der Sprache, der Gefühle, der Leidenschaften unter das eine jede freie Bewegung des dichterischen Geistes erstickende unverletzbare Gesetz gesucht, hatte er die Kunst gerade ebenso einer akademischen, wie Ludwig der Vier¬ zehnte die Gesellschaft einer höfischen Etikette unterworfen: so suchte die Ro¬ mantik, nachdem sie daK Recht der Natur der willkürlichen Regel gegenüber zur Anerkennung gebracht, das Kunstideal theils durch die Uebertreibung und Verzerrung der Natur ins Ungeheuerliche zu verwirklichen, theils aber verlief sie sich, um einen idealen Inhalt zu gewinnen, in Reflexionen und Betrach-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/332>, abgerufen am 22.07.2024.