Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.hat besonders Victor Hugo, dessen lange Dichterlaufbahn ein Spiegelbild der Die Romantik hatte sich in Victor Hugo und seinen Nachahmern über¬ An Vorarbeitern in derselben Richtung, aber auf andern Gebieten der hat besonders Victor Hugo, dessen lange Dichterlaufbahn ein Spiegelbild der Die Romantik hatte sich in Victor Hugo und seinen Nachahmern über¬ An Vorarbeitern in derselben Richtung, aber auf andern Gebieten der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0334" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127730"/> <p xml:id="ID_1076" prev="#ID_1075"> hat besonders Victor Hugo, dessen lange Dichterlaufbahn ein Spiegelbild der<lb/> Romantik von ihren Anfängen, ihren Höhen bis zu ihrem raschen Verfalle<lb/> ist, das Aeußerste geleistet. Wohl ist das Verbrechen, das Elend ein Vor¬<lb/> wurf für die Kunst, besonders die dramatische. Aber die großen Shakespcare-<lb/> schen Verbrecher, welche die dämonische Macht des Bösen repräsentiren, er¬<lb/> wecken Grauen; Victor Hugo's Nachbilder derselben sind nur schauderhaft,<lb/> sittliche Mißgeburten, und vor Allem, trotz aller Detailmalerei, gespenstische<lb/> Phantome, Gestalten ohne Fleisch und Blut. Erzeugnisse einer ausschweifen¬<lb/> den Phantasie, die keineswegs von einer entsprechenden Gestaltungsgabe unter¬<lb/> stützt wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1077"> Die Romantik hatte sich in Victor Hugo und seinen Nachahmern über¬<lb/> schlagen; einzelne Versuche, im Drama zu dem gespreizten Scheinidealismus<lb/> der classischen Schule zurückzukehren, hatten/nur einen schwachen vorübergehen¬<lb/> den Erfolg; was blieb übrig, als zum rohesten Naturalismus sich zu wenden,<lb/> und die Personen und Verhältnisse des Pariser Lebens aufs Genaueste zu<lb/> porträtiren, zu daguerrotypiren.</p><lb/> <p xml:id="ID_1078"> An Vorarbeitern in derselben Richtung, aber auf andern Gebieten der<lb/> Literatur, fehlte es den Dramatikern nicht. Die Typen des Pariserthumö<lb/> waren in mustergiltigen Genrebildern vielfach bearbeitet worden; Eugen Sue<lb/> hatte das Beispiel gegeben, wie sich auch der Abschaum der Gesellschaft<lb/> literarisch in die gebildeten Kreise einführen ließ. Der sogenannte sociale<lb/> Roman hatte dem Drama der Decadence den Weg gebahnt, indem er den<lb/> Stoff, der allein noch für das Publicum von Interesse war, gewissermaßen<lb/> salonfähig gemacht hatte. Dieses Stoffes bemächtigte sich das Drama; es<lb/> stellte das Leben einer in sich zerrütteten, in raschem Verfalle begriffenen Ge¬<lb/> sellschaft mit dem Streben nach täuschender Ähnlichkeit dar: einer Gesell¬<lb/> schaft, die, wie Rutenberg sehr richtig bemerkt, von der des alten Frankreich<lb/> sich nur'dadurch unterscheidet, daß damals die Verderbtheit sich im Wesent¬<lb/> lichen auf die höheren Stände beschränkte, der Kern des Volkes verhältni߬<lb/> mäßig gesund und noch eines idealen Aufschwunges, einer kräftigen Be¬<lb/> geisterung fähig war, während gegenwärtig, unter dem Einfluß des Gleich¬<lb/> heitsprincips, die sittliche Verderbtheit sich allen Ständen mitgetheilt (ein ge¬<lb/> sunder Kern ist im Kleinbürgerthum indessen doch wohl noch geblieben) und<lb/> dagegen — fügen wir hinzu — die geistige Rohheit, das Wohlgefallen an<lb/> dem Grotesken, Ungeheuerlichen, von unten auf sich über alle, auch die höch¬<lb/> sten Schichten der Gesellschaft verbreitet hat. Demoiselle Therese in den<lb/> Tuilerien und in den Salons der höchsten Würdenträger ihre Chansons vor¬<lb/> tragend:—kann die fruchtbarste Einbildungskraft wohl ein treffenderes Zerr¬<lb/> bild des Gleichheitsprincips erfinden, wie es sich in der französischen Gesell¬<lb/> schaft eunvickclt hat?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0334]
hat besonders Victor Hugo, dessen lange Dichterlaufbahn ein Spiegelbild der
Romantik von ihren Anfängen, ihren Höhen bis zu ihrem raschen Verfalle
ist, das Aeußerste geleistet. Wohl ist das Verbrechen, das Elend ein Vor¬
wurf für die Kunst, besonders die dramatische. Aber die großen Shakespcare-
schen Verbrecher, welche die dämonische Macht des Bösen repräsentiren, er¬
wecken Grauen; Victor Hugo's Nachbilder derselben sind nur schauderhaft,
sittliche Mißgeburten, und vor Allem, trotz aller Detailmalerei, gespenstische
Phantome, Gestalten ohne Fleisch und Blut. Erzeugnisse einer ausschweifen¬
den Phantasie, die keineswegs von einer entsprechenden Gestaltungsgabe unter¬
stützt wird.
Die Romantik hatte sich in Victor Hugo und seinen Nachahmern über¬
schlagen; einzelne Versuche, im Drama zu dem gespreizten Scheinidealismus
der classischen Schule zurückzukehren, hatten/nur einen schwachen vorübergehen¬
den Erfolg; was blieb übrig, als zum rohesten Naturalismus sich zu wenden,
und die Personen und Verhältnisse des Pariser Lebens aufs Genaueste zu
porträtiren, zu daguerrotypiren.
An Vorarbeitern in derselben Richtung, aber auf andern Gebieten der
Literatur, fehlte es den Dramatikern nicht. Die Typen des Pariserthumö
waren in mustergiltigen Genrebildern vielfach bearbeitet worden; Eugen Sue
hatte das Beispiel gegeben, wie sich auch der Abschaum der Gesellschaft
literarisch in die gebildeten Kreise einführen ließ. Der sogenannte sociale
Roman hatte dem Drama der Decadence den Weg gebahnt, indem er den
Stoff, der allein noch für das Publicum von Interesse war, gewissermaßen
salonfähig gemacht hatte. Dieses Stoffes bemächtigte sich das Drama; es
stellte das Leben einer in sich zerrütteten, in raschem Verfalle begriffenen Ge¬
sellschaft mit dem Streben nach täuschender Ähnlichkeit dar: einer Gesell¬
schaft, die, wie Rutenberg sehr richtig bemerkt, von der des alten Frankreich
sich nur'dadurch unterscheidet, daß damals die Verderbtheit sich im Wesent¬
lichen auf die höheren Stände beschränkte, der Kern des Volkes verhältni߬
mäßig gesund und noch eines idealen Aufschwunges, einer kräftigen Be¬
geisterung fähig war, während gegenwärtig, unter dem Einfluß des Gleich¬
heitsprincips, die sittliche Verderbtheit sich allen Ständen mitgetheilt (ein ge¬
sunder Kern ist im Kleinbürgerthum indessen doch wohl noch geblieben) und
dagegen — fügen wir hinzu — die geistige Rohheit, das Wohlgefallen an
dem Grotesken, Ungeheuerlichen, von unten auf sich über alle, auch die höch¬
sten Schichten der Gesellschaft verbreitet hat. Demoiselle Therese in den
Tuilerien und in den Salons der höchsten Würdenträger ihre Chansons vor¬
tragend:—kann die fruchtbarste Einbildungskraft wohl ein treffenderes Zerr¬
bild des Gleichheitsprincips erfinden, wie es sich in der französischen Gesell¬
schaft eunvickclt hat?
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |