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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Die Justizverwaltung im neutralen Gebiet ermangelt der gesetzlichen
Grundlage, da der preußische Vorschlag, in derselben unter Beibehaltung der
alten Gesetzgebung das eine Jahr preußische, das andere niederländische Rich¬
ter fungiren zu lassen, abgelehnt wurde. Das thatsächliche Verhältniß ist aber
nun folgendes: Civilklagen können nach Belieben des Klägers entweder bei
den competenten preußischen Gerichten (dem Friedensgericht zu Eupen oder
dem Landgericht zu Aachen) oder bei den belgischen (dem Friedensgericht zu
Aubel oder dem Tribunal zu Verviers) anhängig gemacht werden, vorausge¬
setzt, daß der Gerichtsstand der Sache nicht von vornherein die Wahl aus¬
schließt. Die weiteren Instanzen können von den Parteien natürlich nur in
demjenigen der beiden Staaten beschritten werden, welchem das Gericht ange¬
hört, an das man sich zuerst wendete. Die Verfolgung der auf dem neutra¬
len Gebiete begangenen Verbrechen und Vergehen wird von dem Bürgermeister
neutral-Moresnets den betreffenden preußischen oder belgischen Behörden
überwiesen, je nachdem die einen oder die andern zur Erledigung der Ange¬
legenheit besonders geeignet scheinen. Handelt es sich indeß um Belgier oder
Preußen, die im neutralen Gebiet sich aufhalten, so unterliegen sie in jedem
Falle der Aburtheilung durch heimische Gerichtsbehörden. Die administrative
Polizei verwaltet im neutralen Gebiete dessen Bürgermeister mit seinem Ad-
juncten. Jener ist deshalb auch Hülfsbeamter der gerichtlichen Polizei und
mit der Führung der Civilstandsregister betraut, deren Revision von dem
Oberprocurator zu Aachen besorgt wird.

In kirchlicher Beziehung gehört das neutrale Gebiet vom Altenberg zu
der katholischen Pfarrei von Belgisch-Moresnet. Doch hat die Bergwerksge¬
sellschaft nicht fern von der Grube eine eigene Capelle errichtet, die seit 1853
ihren besondern Geistlichen hat, und man ging später mit dem Gedanken um,
eine große Kirche zu erbauen und das neutrale Gebiet in einen selbständigen
Pfarrbezirk zu verwandeln. Die Evangelischen haben ebenfalls ein kleines
Gotteshaus, welches indeß auf preußischem Gebiet steht. Ein Schulzwang
existirt innerhalb des neutralen Ländchens nicht, ja Anfangs gab es dort
überhaupt keinerlei Unterrichtsanstalten, und wer von den Einwohnern seine
Kinder etwas lernen lassen wollte, mußte sie entweder in die Schule von
Hergenraed oder nach Belgisch-Moresnet schicken. Jetzt hat das Gebiet eine
eigne vierclassige Schule, an der außer zwei Lehrern auch einige Nonnen
Unterricht ertheilen, und wo der Unterricht in deutscher Sprache ertheilt, in¬
deß wegen der vielen hier wohnenden Fransquillons auch die Erlernung des
Französischen betrieben wird.

Diese Abnormität soll jetzt verschwinden. Am 30. April haben sich
Preußen und Belgien im Allgemeinen darüber verständigt. In welcher Weise
ist noch unbekannt. Doch ist sicher, daß das neutrale Gebiet getheilt werden


Die Justizverwaltung im neutralen Gebiet ermangelt der gesetzlichen
Grundlage, da der preußische Vorschlag, in derselben unter Beibehaltung der
alten Gesetzgebung das eine Jahr preußische, das andere niederländische Rich¬
ter fungiren zu lassen, abgelehnt wurde. Das thatsächliche Verhältniß ist aber
nun folgendes: Civilklagen können nach Belieben des Klägers entweder bei
den competenten preußischen Gerichten (dem Friedensgericht zu Eupen oder
dem Landgericht zu Aachen) oder bei den belgischen (dem Friedensgericht zu
Aubel oder dem Tribunal zu Verviers) anhängig gemacht werden, vorausge¬
setzt, daß der Gerichtsstand der Sache nicht von vornherein die Wahl aus¬
schließt. Die weiteren Instanzen können von den Parteien natürlich nur in
demjenigen der beiden Staaten beschritten werden, welchem das Gericht ange¬
hört, an das man sich zuerst wendete. Die Verfolgung der auf dem neutra¬
len Gebiete begangenen Verbrechen und Vergehen wird von dem Bürgermeister
neutral-Moresnets den betreffenden preußischen oder belgischen Behörden
überwiesen, je nachdem die einen oder die andern zur Erledigung der Ange¬
legenheit besonders geeignet scheinen. Handelt es sich indeß um Belgier oder
Preußen, die im neutralen Gebiet sich aufhalten, so unterliegen sie in jedem
Falle der Aburtheilung durch heimische Gerichtsbehörden. Die administrative
Polizei verwaltet im neutralen Gebiete dessen Bürgermeister mit seinem Ad-
juncten. Jener ist deshalb auch Hülfsbeamter der gerichtlichen Polizei und
mit der Führung der Civilstandsregister betraut, deren Revision von dem
Oberprocurator zu Aachen besorgt wird.

In kirchlicher Beziehung gehört das neutrale Gebiet vom Altenberg zu
der katholischen Pfarrei von Belgisch-Moresnet. Doch hat die Bergwerksge¬
sellschaft nicht fern von der Grube eine eigene Capelle errichtet, die seit 1853
ihren besondern Geistlichen hat, und man ging später mit dem Gedanken um,
eine große Kirche zu erbauen und das neutrale Gebiet in einen selbständigen
Pfarrbezirk zu verwandeln. Die Evangelischen haben ebenfalls ein kleines
Gotteshaus, welches indeß auf preußischem Gebiet steht. Ein Schulzwang
existirt innerhalb des neutralen Ländchens nicht, ja Anfangs gab es dort
überhaupt keinerlei Unterrichtsanstalten, und wer von den Einwohnern seine
Kinder etwas lernen lassen wollte, mußte sie entweder in die Schule von
Hergenraed oder nach Belgisch-Moresnet schicken. Jetzt hat das Gebiet eine
eigne vierclassige Schule, an der außer zwei Lehrern auch einige Nonnen
Unterricht ertheilen, und wo der Unterricht in deutscher Sprache ertheilt, in¬
deß wegen der vielen hier wohnenden Fransquillons auch die Erlernung des
Französischen betrieben wird.

Diese Abnormität soll jetzt verschwinden. Am 30. April haben sich
Preußen und Belgien im Allgemeinen darüber verständigt. In welcher Weise
ist noch unbekannt. Doch ist sicher, daß das neutrale Gebiet getheilt werden


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[0309] Die Justizverwaltung im neutralen Gebiet ermangelt der gesetzlichen Grundlage, da der preußische Vorschlag, in derselben unter Beibehaltung der alten Gesetzgebung das eine Jahr preußische, das andere niederländische Rich¬ ter fungiren zu lassen, abgelehnt wurde. Das thatsächliche Verhältniß ist aber nun folgendes: Civilklagen können nach Belieben des Klägers entweder bei den competenten preußischen Gerichten (dem Friedensgericht zu Eupen oder dem Landgericht zu Aachen) oder bei den belgischen (dem Friedensgericht zu Aubel oder dem Tribunal zu Verviers) anhängig gemacht werden, vorausge¬ setzt, daß der Gerichtsstand der Sache nicht von vornherein die Wahl aus¬ schließt. Die weiteren Instanzen können von den Parteien natürlich nur in demjenigen der beiden Staaten beschritten werden, welchem das Gericht ange¬ hört, an das man sich zuerst wendete. Die Verfolgung der auf dem neutra¬ len Gebiete begangenen Verbrechen und Vergehen wird von dem Bürgermeister neutral-Moresnets den betreffenden preußischen oder belgischen Behörden überwiesen, je nachdem die einen oder die andern zur Erledigung der Ange¬ legenheit besonders geeignet scheinen. Handelt es sich indeß um Belgier oder Preußen, die im neutralen Gebiet sich aufhalten, so unterliegen sie in jedem Falle der Aburtheilung durch heimische Gerichtsbehörden. Die administrative Polizei verwaltet im neutralen Gebiete dessen Bürgermeister mit seinem Ad- juncten. Jener ist deshalb auch Hülfsbeamter der gerichtlichen Polizei und mit der Führung der Civilstandsregister betraut, deren Revision von dem Oberprocurator zu Aachen besorgt wird. In kirchlicher Beziehung gehört das neutrale Gebiet vom Altenberg zu der katholischen Pfarrei von Belgisch-Moresnet. Doch hat die Bergwerksge¬ sellschaft nicht fern von der Grube eine eigene Capelle errichtet, die seit 1853 ihren besondern Geistlichen hat, und man ging später mit dem Gedanken um, eine große Kirche zu erbauen und das neutrale Gebiet in einen selbständigen Pfarrbezirk zu verwandeln. Die Evangelischen haben ebenfalls ein kleines Gotteshaus, welches indeß auf preußischem Gebiet steht. Ein Schulzwang existirt innerhalb des neutralen Ländchens nicht, ja Anfangs gab es dort überhaupt keinerlei Unterrichtsanstalten, und wer von den Einwohnern seine Kinder etwas lernen lassen wollte, mußte sie entweder in die Schule von Hergenraed oder nach Belgisch-Moresnet schicken. Jetzt hat das Gebiet eine eigne vierclassige Schule, an der außer zwei Lehrern auch einige Nonnen Unterricht ertheilen, und wo der Unterricht in deutscher Sprache ertheilt, in¬ deß wegen der vielen hier wohnenden Fransquillons auch die Erlernung des Französischen betrieben wird. Diese Abnormität soll jetzt verschwinden. Am 30. April haben sich Preußen und Belgien im Allgemeinen darüber verständigt. In welcher Weise ist noch unbekannt. Doch ist sicher, daß das neutrale Gebiet getheilt werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/309>, abgerufen am 22.07.2024.