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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Rechtsgrund wesentlich besser, wenn ihm etwas Schriftliches zur Basis diente.
Vermuthlich im Gefühle, daß dies ein schwacher Punkt in ihrer Beweisfüh¬
rung ist, dringen jetzt die Serben auch nicht auf die Auswanderung der Tür¬
ken aus Kleinzwornik und Sandar, sondern verlangen nur, daß diese Orte mit
ihrer Umgebung nicht mehr zum Vilayet Bosnien, sondern zum Fürsten-
thum Serbien gerechnet werden. Die angeführte Stelle aus dem
Hattischerif von 1833 in Verein mit der topographischen Karte der Grenz¬
commission gibt ihnen hierin unsrer Meinung nach vollkommen Recht.

Dennoch ist den Staatsmännern der Pforte nicht zu .verdenken,
wenn sie zögern, auf die Forderung einzugehen. Serbien trägt sich mit großen
Gedanken, die der Türkenherrschaft auf der Balkanhalbinsel nichts weniger
als günstig sind. Der Plan eines Bündnisses aller christlichen Bevölkerungen
dieser Lande zur Vertreibung der Muslime und die Vereinigung der Bosnia-
ken, Czernagorzen und Bulgaren mit den Serben zu einer Wiederherstellung
des Reichs Duschans schwebt ihm vor. Es ist gut, wenn man sich vor diesem
Ehrgeiz möglichst in Acht nimmt, wie komisch er bei den dürftigen Mitteln,
die er bis jetzt zu seiner Befriedigung hat, auch erscheinen mag. Die Serben
wollen eine Straße durch das Drinathal -- vielleicht nicht blos für friedliche
Zwecke. Großzwornik ist zwar kein Schlüssel Bosniens, Kleinzwornik aber
ein guter Riegel für jene Straße, und ein ebenso guter Ausgangspunkt für
Operationen nach Serbien hinein, wenn dieses sich einmal die Gelegenheit er¬
sehen sollte, seine Großmachtsträume ins Wirkliche zu übersetzen. Dazu
kommt, daß die Pforte sich offenbar jetzt mehr fühlt, als in den Jahren vor 1870,
wo ihr von der rivalisirenden Politik der Großmächte unaufhörlich neue Zu¬
geständnisse an die centrifugalen Elemente ihres Reiches abgedrungen wurden.
Indeß hat sie auch zu überlegen, daß sie durch Nichterfüllung gegebener Zu¬
sagen der Macht, die hier hinter Serbien stehen könnte, Material zu Klagen
geben würde, die, wenn nicht jetzt, in Zukunft mit andern Sünden Anlaß zu
einem Angriff geben können.

Gegenwärtig ist von der Zwornikfrage kaum eine Störung des Friedens
zu fürchten, wie fehr auch journalistische Stimmen in Belgrad prahlen und
drohen. Man soll hier den Jahrestribut an die suzeräne Macht in Stambul
so lange nicht abliefern wollen, als der Forderung wegen der Enclave bei
Zwornik nicht entsprochen ist. Man wird sich das vermuthlich reiflicher über¬
legen. Andererseits hat die Pforte von Serajewo einige Truppen nach der
Ostgrenze Bosniens beordert. Aber das ist gewiß nur in der Befürchtung
eines Gewaltactes Serbiens gegen Kleinzwornik und somit nur zu defensiven
Zwecken, nicht zur etwaigen Beitreibung des Tributs geschehen. Der Artikel
29 des Pariser Vertrags vom 30. März 1856 sagt, daß "eine bewaffnete


Rechtsgrund wesentlich besser, wenn ihm etwas Schriftliches zur Basis diente.
Vermuthlich im Gefühle, daß dies ein schwacher Punkt in ihrer Beweisfüh¬
rung ist, dringen jetzt die Serben auch nicht auf die Auswanderung der Tür¬
ken aus Kleinzwornik und Sandar, sondern verlangen nur, daß diese Orte mit
ihrer Umgebung nicht mehr zum Vilayet Bosnien, sondern zum Fürsten-
thum Serbien gerechnet werden. Die angeführte Stelle aus dem
Hattischerif von 1833 in Verein mit der topographischen Karte der Grenz¬
commission gibt ihnen hierin unsrer Meinung nach vollkommen Recht.

Dennoch ist den Staatsmännern der Pforte nicht zu .verdenken,
wenn sie zögern, auf die Forderung einzugehen. Serbien trägt sich mit großen
Gedanken, die der Türkenherrschaft auf der Balkanhalbinsel nichts weniger
als günstig sind. Der Plan eines Bündnisses aller christlichen Bevölkerungen
dieser Lande zur Vertreibung der Muslime und die Vereinigung der Bosnia-
ken, Czernagorzen und Bulgaren mit den Serben zu einer Wiederherstellung
des Reichs Duschans schwebt ihm vor. Es ist gut, wenn man sich vor diesem
Ehrgeiz möglichst in Acht nimmt, wie komisch er bei den dürftigen Mitteln,
die er bis jetzt zu seiner Befriedigung hat, auch erscheinen mag. Die Serben
wollen eine Straße durch das Drinathal — vielleicht nicht blos für friedliche
Zwecke. Großzwornik ist zwar kein Schlüssel Bosniens, Kleinzwornik aber
ein guter Riegel für jene Straße, und ein ebenso guter Ausgangspunkt für
Operationen nach Serbien hinein, wenn dieses sich einmal die Gelegenheit er¬
sehen sollte, seine Großmachtsträume ins Wirkliche zu übersetzen. Dazu
kommt, daß die Pforte sich offenbar jetzt mehr fühlt, als in den Jahren vor 1870,
wo ihr von der rivalisirenden Politik der Großmächte unaufhörlich neue Zu¬
geständnisse an die centrifugalen Elemente ihres Reiches abgedrungen wurden.
Indeß hat sie auch zu überlegen, daß sie durch Nichterfüllung gegebener Zu¬
sagen der Macht, die hier hinter Serbien stehen könnte, Material zu Klagen
geben würde, die, wenn nicht jetzt, in Zukunft mit andern Sünden Anlaß zu
einem Angriff geben können.

Gegenwärtig ist von der Zwornikfrage kaum eine Störung des Friedens
zu fürchten, wie fehr auch journalistische Stimmen in Belgrad prahlen und
drohen. Man soll hier den Jahrestribut an die suzeräne Macht in Stambul
so lange nicht abliefern wollen, als der Forderung wegen der Enclave bei
Zwornik nicht entsprochen ist. Man wird sich das vermuthlich reiflicher über¬
legen. Andererseits hat die Pforte von Serajewo einige Truppen nach der
Ostgrenze Bosniens beordert. Aber das ist gewiß nur in der Befürchtung
eines Gewaltactes Serbiens gegen Kleinzwornik und somit nur zu defensiven
Zwecken, nicht zur etwaigen Beitreibung des Tributs geschehen. Der Artikel
29 des Pariser Vertrags vom 30. März 1856 sagt, daß „eine bewaffnete


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/283>, abgerufen am 22.07.2024.