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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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den Externen, das heißt den Zöglingen, die nur auf einige Jahre den Jesuiten
anvertraut waren, durften sie nur nach besonderer Erlaubniß sprechen, und
dann nur von Wissenschaften oder von geistlichem Fortschritt, die Briefe der
Novizen wurden gelesen.") Aber nicht blos die Freundschaft war verboten,
selbst die Liebe zu den Aeltern war gemißbilligt. Die Novizen sollten
sich gewöhnen, zu sagen: Wir hatten Aeltern, wir haben sie nicht mehr. Will
man ein anschauliches Bild von der sittlichen Verzerrung empfangen, zu wel¬
cher die jesuitische Erziehung nothwendig führt, so lese man den Brief eines
Novizen, der nach Aushebung des Jesuitenordens das Institut verlassen mußte,
an seine Aeltern: "Mir fiel nun wohl ein, daß ich wieder zu meinen lieben
Aeltern nach Hause mußte. Allein da mich das Gesetz der Liebe, an welches
uns der Manuductor -- specieller Seelsorger -- erinnerte, noch immer an
meine heilige Regel hielt, so wagte ich nicht, mit Wissen und Willen an Sie
und an das älterliche Haus zu denken, eine Sache, die ohne Verletzung der
Regel nie anders geschehen darf als in der Absicht, für Aeltern und Ange¬
hörige zu beten. Ein so eifriger Christ, wie Sie, mein bester Papa, weiß bei¬
nahe so gut als ein Geistlicher, daß es heiligere Bande giebt als jene der
sündhaften Natur, und daß ein Mensch, der dem Fleische abgestorben ist und
nur nach dem Geiste lebt, eigentlich keinen anderen Vater mehr haben könne,
als den himmlischen, keine andere Mutter, als seinen heiligen Orden, keine
andere Verwandten als seine Brüder in Christo, und kein anderes Vaterland
als den Himmel. Die Anhänglichkeit an Fleisch und Blut ist, wie alle Geist¬
lehrer einstimmig behaupten, eine der stärksten Ketten, mit denen uns Satan
fest an die Erde schmieden will. Ich hatte auch wirklich mit diesem Erbfeinde
unserer Vollkommenheit gestern Abend, die Nacht und den heutigen Morgen
über einen fast ebenso beschwerlichen Kampf, als gleich im Anfange meines
geistlichen Standes. Denn alle Augenblicke zauberte er' mir Papa, Mama,
Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, selbst unser Stubenmädchen nicht
ausgenommen, vor die Augen des Geistes. Sie können sich die Gewissens¬
angst vorstellen, die ich auszustehen hatte, bis endlich heute 9 Uhr Morgens
der Manuductor ankündigte: der Pater Rector erlaube uns allen, an unsere
Angehörigen zu schreiben und sie auf unsere Zurückkunft vorzubereiten. Zu
größerer Beruhigung meines Gewissens begehrte ich für meine Person vom
Manuductor besondere Erlaubniß nicht nur beim Schreiben sondern auch den
ganzen Tag über an meine nächsten Blutsfreunde denken zu dürfen. Ich er¬
hielt sie auch, die Zeiten der Meditation, der geistlichen Lesung und des ^n-
gelus voinini (ein Gebet) ausgenommen. Den leidigen Versucher noch mehr
zu quälen und mir noch obendrein das Verdienst des Gehorsams zu machen,



") Went-r ni. a. O. S. 247-248.

den Externen, das heißt den Zöglingen, die nur auf einige Jahre den Jesuiten
anvertraut waren, durften sie nur nach besonderer Erlaubniß sprechen, und
dann nur von Wissenschaften oder von geistlichem Fortschritt, die Briefe der
Novizen wurden gelesen.") Aber nicht blos die Freundschaft war verboten,
selbst die Liebe zu den Aeltern war gemißbilligt. Die Novizen sollten
sich gewöhnen, zu sagen: Wir hatten Aeltern, wir haben sie nicht mehr. Will
man ein anschauliches Bild von der sittlichen Verzerrung empfangen, zu wel¬
cher die jesuitische Erziehung nothwendig führt, so lese man den Brief eines
Novizen, der nach Aushebung des Jesuitenordens das Institut verlassen mußte,
an seine Aeltern: „Mir fiel nun wohl ein, daß ich wieder zu meinen lieben
Aeltern nach Hause mußte. Allein da mich das Gesetz der Liebe, an welches
uns der Manuductor — specieller Seelsorger — erinnerte, noch immer an
meine heilige Regel hielt, so wagte ich nicht, mit Wissen und Willen an Sie
und an das älterliche Haus zu denken, eine Sache, die ohne Verletzung der
Regel nie anders geschehen darf als in der Absicht, für Aeltern und Ange¬
hörige zu beten. Ein so eifriger Christ, wie Sie, mein bester Papa, weiß bei¬
nahe so gut als ein Geistlicher, daß es heiligere Bande giebt als jene der
sündhaften Natur, und daß ein Mensch, der dem Fleische abgestorben ist und
nur nach dem Geiste lebt, eigentlich keinen anderen Vater mehr haben könne,
als den himmlischen, keine andere Mutter, als seinen heiligen Orden, keine
andere Verwandten als seine Brüder in Christo, und kein anderes Vaterland
als den Himmel. Die Anhänglichkeit an Fleisch und Blut ist, wie alle Geist¬
lehrer einstimmig behaupten, eine der stärksten Ketten, mit denen uns Satan
fest an die Erde schmieden will. Ich hatte auch wirklich mit diesem Erbfeinde
unserer Vollkommenheit gestern Abend, die Nacht und den heutigen Morgen
über einen fast ebenso beschwerlichen Kampf, als gleich im Anfange meines
geistlichen Standes. Denn alle Augenblicke zauberte er' mir Papa, Mama,
Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, selbst unser Stubenmädchen nicht
ausgenommen, vor die Augen des Geistes. Sie können sich die Gewissens¬
angst vorstellen, die ich auszustehen hatte, bis endlich heute 9 Uhr Morgens
der Manuductor ankündigte: der Pater Rector erlaube uns allen, an unsere
Angehörigen zu schreiben und sie auf unsere Zurückkunft vorzubereiten. Zu
größerer Beruhigung meines Gewissens begehrte ich für meine Person vom
Manuductor besondere Erlaubniß nicht nur beim Schreiben sondern auch den
ganzen Tag über an meine nächsten Blutsfreunde denken zu dürfen. Ich er¬
hielt sie auch, die Zeiten der Meditation, der geistlichen Lesung und des ^n-
gelus voinini (ein Gebet) ausgenommen. Den leidigen Versucher noch mehr
zu quälen und mir noch obendrein das Verdienst des Gehorsams zu machen,



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[0264] den Externen, das heißt den Zöglingen, die nur auf einige Jahre den Jesuiten anvertraut waren, durften sie nur nach besonderer Erlaubniß sprechen, und dann nur von Wissenschaften oder von geistlichem Fortschritt, die Briefe der Novizen wurden gelesen.") Aber nicht blos die Freundschaft war verboten, selbst die Liebe zu den Aeltern war gemißbilligt. Die Novizen sollten sich gewöhnen, zu sagen: Wir hatten Aeltern, wir haben sie nicht mehr. Will man ein anschauliches Bild von der sittlichen Verzerrung empfangen, zu wel¬ cher die jesuitische Erziehung nothwendig führt, so lese man den Brief eines Novizen, der nach Aushebung des Jesuitenordens das Institut verlassen mußte, an seine Aeltern: „Mir fiel nun wohl ein, daß ich wieder zu meinen lieben Aeltern nach Hause mußte. Allein da mich das Gesetz der Liebe, an welches uns der Manuductor — specieller Seelsorger — erinnerte, noch immer an meine heilige Regel hielt, so wagte ich nicht, mit Wissen und Willen an Sie und an das älterliche Haus zu denken, eine Sache, die ohne Verletzung der Regel nie anders geschehen darf als in der Absicht, für Aeltern und Ange¬ hörige zu beten. Ein so eifriger Christ, wie Sie, mein bester Papa, weiß bei¬ nahe so gut als ein Geistlicher, daß es heiligere Bande giebt als jene der sündhaften Natur, und daß ein Mensch, der dem Fleische abgestorben ist und nur nach dem Geiste lebt, eigentlich keinen anderen Vater mehr haben könne, als den himmlischen, keine andere Mutter, als seinen heiligen Orden, keine andere Verwandten als seine Brüder in Christo, und kein anderes Vaterland als den Himmel. Die Anhänglichkeit an Fleisch und Blut ist, wie alle Geist¬ lehrer einstimmig behaupten, eine der stärksten Ketten, mit denen uns Satan fest an die Erde schmieden will. Ich hatte auch wirklich mit diesem Erbfeinde unserer Vollkommenheit gestern Abend, die Nacht und den heutigen Morgen über einen fast ebenso beschwerlichen Kampf, als gleich im Anfange meines geistlichen Standes. Denn alle Augenblicke zauberte er' mir Papa, Mama, Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, selbst unser Stubenmädchen nicht ausgenommen, vor die Augen des Geistes. Sie können sich die Gewissens¬ angst vorstellen, die ich auszustehen hatte, bis endlich heute 9 Uhr Morgens der Manuductor ankündigte: der Pater Rector erlaube uns allen, an unsere Angehörigen zu schreiben und sie auf unsere Zurückkunft vorzubereiten. Zu größerer Beruhigung meines Gewissens begehrte ich für meine Person vom Manuductor besondere Erlaubniß nicht nur beim Schreiben sondern auch den ganzen Tag über an meine nächsten Blutsfreunde denken zu dürfen. Ich er¬ hielt sie auch, die Zeiten der Meditation, der geistlichen Lesung und des ^n- gelus voinini (ein Gebet) ausgenommen. Den leidigen Versucher noch mehr zu quälen und mir noch obendrein das Verdienst des Gehorsams zu machen, ") Went-r ni. a. O. S. 247-248.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/264>, abgerufen am 22.07.2024.