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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Die Ziele des Protestantismus liegen, in der Freiheit und Mündigkeit
des Einzelnen: jedes Glied der Gemeinde soll zur Selbständigkeit erzogen
werden. Die Ziele des römischen Katholicismus liegen in der Abhängigkeit
und Unterwerfung: jedes Glied der Gemeinde soll zum Gehorsam erzogen
werden. An diesen Gegensatz erinnert uns auch die Lehrmethode der
Jesuiten, zu der wir uns nun wenden. Vergeblich erwarten wir, daß im
Unterricht die Schüler selbst thätig sind, etwa die Autoren unter Leitung des
Lehrers auslegen oder veranlaßt werden, die grammatische Regel zu finden.
Wie in der Kirche der Priester, so ist in der Schule der Lehrer das Ein und
Alles. Er trägt vor, der Schüler der untern Classen zeichnet sich den Vor¬
trag auf, der Schüler der oberen Classen macht sich Notizen, die den Stoff
zu späterer eigener Ausarbeitung bilden. Der Lehrer trägt vor, der Schüler
lernt, und das Gelernte wird ihm abgefragt. Keine Kraft wird so in An¬
spruch genommen als das Gedächtniß. Täglich wurde auswendig gelernt,
drei oder vier Mal in der Woche unter Leitung des Lehrers je eine Stunde
lang repetirt. Am Sonnabend wurden die Memorirpensa der Woche vor der
Classe hergesagt, und war ein Buch der Grammatik oder des Autors absol-
virt, so recitirte oder declamirte es wohl ein sonderlich fleißiger Schüler vor
der Classe.*) Doch fehlte es nicht an Uebungen des Erkennens, indem aller¬
dings in schriftlichen Uebungen, bei Gelegenheit der RePetitionen und der
Wettkämpfe Beweise inneren Verständnisses abgelegt werden konnten und
sollten. Aber es durfte die eigne erkennende Thätigkeit sich nur auf Wieder¬
erzeugung der Dictate oder des Vortrags beschränken, sich in den Grenzen
der Mittheilungen des LZHrers halten und keine eignen freien Wege betreten.
Davor zu schützen war auch die ganze Art und Weise des Unterrichts ange¬
than. Der Unterricht der Jesuiten in der lateinischen und griechischen
Sprache hat durchaus nicht etwa den Zweck, in den Geist des griechischen
und römischen Alterthums einzudringen, die edle Einfalt und Hoheit desselben
anzueignen, den Sinn der Schüler mit kräftigen Gedanken und Entschlüssen
zu erfüllen, die ideale Richtung der Seele zu befestigen, durchaus nicht. Der
Zweck der classischen Studien ist kein anderer als einerseits die Befähigung
zum Sprechen der alten Sprachen, andererseits zur Beredsamkeit in denselben
zu bilden. Rhetorik -- das ist den Jesuiten die Wissenschaft aller Wissen¬
schaften, und den Schüler zum Redner zu bilden, das ist das letzte Ziel des
Unterrichts. Der Landshuter Lehrplan erklärt ausdrücklich: "Die heidnischen
Schriftsteller des classischen Alterthums können nur einen untergeordneten
Zweck haben. . . . "Durch sie soll nur die Sprache der Hellenen, besonders
aber der Römer, gewonnen, der Styl gebildet werden und nichts weiter, nichts



") Welcker a, a. O. S. 182.
Grenzvotm II. 1872.^>

Die Ziele des Protestantismus liegen, in der Freiheit und Mündigkeit
des Einzelnen: jedes Glied der Gemeinde soll zur Selbständigkeit erzogen
werden. Die Ziele des römischen Katholicismus liegen in der Abhängigkeit
und Unterwerfung: jedes Glied der Gemeinde soll zum Gehorsam erzogen
werden. An diesen Gegensatz erinnert uns auch die Lehrmethode der
Jesuiten, zu der wir uns nun wenden. Vergeblich erwarten wir, daß im
Unterricht die Schüler selbst thätig sind, etwa die Autoren unter Leitung des
Lehrers auslegen oder veranlaßt werden, die grammatische Regel zu finden.
Wie in der Kirche der Priester, so ist in der Schule der Lehrer das Ein und
Alles. Er trägt vor, der Schüler der untern Classen zeichnet sich den Vor¬
trag auf, der Schüler der oberen Classen macht sich Notizen, die den Stoff
zu späterer eigener Ausarbeitung bilden. Der Lehrer trägt vor, der Schüler
lernt, und das Gelernte wird ihm abgefragt. Keine Kraft wird so in An¬
spruch genommen als das Gedächtniß. Täglich wurde auswendig gelernt,
drei oder vier Mal in der Woche unter Leitung des Lehrers je eine Stunde
lang repetirt. Am Sonnabend wurden die Memorirpensa der Woche vor der
Classe hergesagt, und war ein Buch der Grammatik oder des Autors absol-
virt, so recitirte oder declamirte es wohl ein sonderlich fleißiger Schüler vor
der Classe.*) Doch fehlte es nicht an Uebungen des Erkennens, indem aller¬
dings in schriftlichen Uebungen, bei Gelegenheit der RePetitionen und der
Wettkämpfe Beweise inneren Verständnisses abgelegt werden konnten und
sollten. Aber es durfte die eigne erkennende Thätigkeit sich nur auf Wieder¬
erzeugung der Dictate oder des Vortrags beschränken, sich in den Grenzen
der Mittheilungen des LZHrers halten und keine eignen freien Wege betreten.
Davor zu schützen war auch die ganze Art und Weise des Unterrichts ange¬
than. Der Unterricht der Jesuiten in der lateinischen und griechischen
Sprache hat durchaus nicht etwa den Zweck, in den Geist des griechischen
und römischen Alterthums einzudringen, die edle Einfalt und Hoheit desselben
anzueignen, den Sinn der Schüler mit kräftigen Gedanken und Entschlüssen
zu erfüllen, die ideale Richtung der Seele zu befestigen, durchaus nicht. Der
Zweck der classischen Studien ist kein anderer als einerseits die Befähigung
zum Sprechen der alten Sprachen, andererseits zur Beredsamkeit in denselben
zu bilden. Rhetorik — das ist den Jesuiten die Wissenschaft aller Wissen¬
schaften, und den Schüler zum Redner zu bilden, das ist das letzte Ziel des
Unterrichts. Der Landshuter Lehrplan erklärt ausdrücklich: „Die heidnischen
Schriftsteller des classischen Alterthums können nur einen untergeordneten
Zweck haben. . . . „Durch sie soll nur die Sprache der Hellenen, besonders
aber der Römer, gewonnen, der Styl gebildet werden und nichts weiter, nichts



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[0257] Die Ziele des Protestantismus liegen, in der Freiheit und Mündigkeit des Einzelnen: jedes Glied der Gemeinde soll zur Selbständigkeit erzogen werden. Die Ziele des römischen Katholicismus liegen in der Abhängigkeit und Unterwerfung: jedes Glied der Gemeinde soll zum Gehorsam erzogen werden. An diesen Gegensatz erinnert uns auch die Lehrmethode der Jesuiten, zu der wir uns nun wenden. Vergeblich erwarten wir, daß im Unterricht die Schüler selbst thätig sind, etwa die Autoren unter Leitung des Lehrers auslegen oder veranlaßt werden, die grammatische Regel zu finden. Wie in der Kirche der Priester, so ist in der Schule der Lehrer das Ein und Alles. Er trägt vor, der Schüler der untern Classen zeichnet sich den Vor¬ trag auf, der Schüler der oberen Classen macht sich Notizen, die den Stoff zu späterer eigener Ausarbeitung bilden. Der Lehrer trägt vor, der Schüler lernt, und das Gelernte wird ihm abgefragt. Keine Kraft wird so in An¬ spruch genommen als das Gedächtniß. Täglich wurde auswendig gelernt, drei oder vier Mal in der Woche unter Leitung des Lehrers je eine Stunde lang repetirt. Am Sonnabend wurden die Memorirpensa der Woche vor der Classe hergesagt, und war ein Buch der Grammatik oder des Autors absol- virt, so recitirte oder declamirte es wohl ein sonderlich fleißiger Schüler vor der Classe.*) Doch fehlte es nicht an Uebungen des Erkennens, indem aller¬ dings in schriftlichen Uebungen, bei Gelegenheit der RePetitionen und der Wettkämpfe Beweise inneren Verständnisses abgelegt werden konnten und sollten. Aber es durfte die eigne erkennende Thätigkeit sich nur auf Wieder¬ erzeugung der Dictate oder des Vortrags beschränken, sich in den Grenzen der Mittheilungen des LZHrers halten und keine eignen freien Wege betreten. Davor zu schützen war auch die ganze Art und Weise des Unterrichts ange¬ than. Der Unterricht der Jesuiten in der lateinischen und griechischen Sprache hat durchaus nicht etwa den Zweck, in den Geist des griechischen und römischen Alterthums einzudringen, die edle Einfalt und Hoheit desselben anzueignen, den Sinn der Schüler mit kräftigen Gedanken und Entschlüssen zu erfüllen, die ideale Richtung der Seele zu befestigen, durchaus nicht. Der Zweck der classischen Studien ist kein anderer als einerseits die Befähigung zum Sprechen der alten Sprachen, andererseits zur Beredsamkeit in denselben zu bilden. Rhetorik — das ist den Jesuiten die Wissenschaft aller Wissen¬ schaften, und den Schüler zum Redner zu bilden, das ist das letzte Ziel des Unterrichts. Der Landshuter Lehrplan erklärt ausdrücklich: „Die heidnischen Schriftsteller des classischen Alterthums können nur einen untergeordneten Zweck haben. . . . „Durch sie soll nur die Sprache der Hellenen, besonders aber der Römer, gewonnen, der Styl gebildet werden und nichts weiter, nichts ") Welcker a, a. O. S. 182. Grenzvotm II. 1872.^>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/257>, abgerufen am 22.07.2024.