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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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dient ein Denkmal. Hätten die Vertreter der Geisteswissenschaften doch den
Muth Jacob Grimm's, zu wissen und zu bekennen, daß sie die Pfleger der
ungenauen Wissenschaften sind. Hätten wir doch die Klarheit über unsere
Aufgabe, um die Natur derselben auszusprechen und, indem wir sie aus¬
sprechen, uns ihrer nicht zu schämen, sondern auf sie stolz zu sein. Grimm
hebt nur einen Vorzug der ungenauen Wissenschaften hervor, daß sie viel
fester auf dem Boden des Vaterlandes stehen. Er hätte sagen können, daß
mit dem sittlichen Menschengeist nur die ungenauen Wissenschaften un¬
mittelbar zu thun haben oder, daß die Wissenschaft des Sittlichen eine unge¬
naue ist.

Ist denn eine ungenaue Wissenschaft noch Wissenschaft, liegt in der Be¬
zeichnung nicht eine comet'kulietio in ach'eeto? Nein! Wenn schon die Mathe¬
matik Operationen mit unbestimmten Größen kennt, so kennt noch mehr die
Geisteswissenschaft solche mit niemals völlig bestimmbaren Kräften. Nicht ab¬
solut bestimmbar, darum doch nicht vom Wissen ausgeschlossen, darum doch
nicht unerkennbar sind die Elemente des Sittlichen; aber auch nicht trennbar
in einen absolut erkennbaren und einen ebenso unerkennbaren Theil. Viel¬
mehr gibt es Kräfte, die der Geist nur als bewegliche erfassen und in ihrer
Beweglichkeit doch erreichen kann. Herbart glaubte, auf Schleiermacher herab¬
sehen zu können, weil dieser von Naturgesetzen gesprochen, die Ausnahmen zu¬
lassen. Solche Gesetze seien keine Naturgesetze. Und Helmholtz klagt über die
philologisch vorgebildeten Schüler, welche von der Sprache her überall an
Ausnahmen gewöhnt sind. Aber anders waltet die Einheit, welche sich in
Mannigfaltiges ergießt, und die, welche nur sich selbst wiederholt. In Eines
Schauen des Mannigfaltigen ist ungenaue Wissenschaft. Ob sich die orga¬
nische Einheit in der Mannigfaltigkeit jemals wird erkennen lassen als gegen¬
seitige Beschränkung in sich völlig bestimmter Kräfte, ist ein Geheimniß, das
die arbeitende Forschung vor sich hat. So lange die Forschung bis dahin
nicht vorgedrungen, werden die ungenauen Wissenschaften nicht nur bestehen,
sondern in der Erkenntniß den ersten Platz behaupten.

Wo wir die Spuren Jacob Grimm's gehen, da finden wir nur Leben
und Freiheit. Nur in diesem Elemente wollte dieser Geist athmen.


Constantin Rößler.


dient ein Denkmal. Hätten die Vertreter der Geisteswissenschaften doch den
Muth Jacob Grimm's, zu wissen und zu bekennen, daß sie die Pfleger der
ungenauen Wissenschaften sind. Hätten wir doch die Klarheit über unsere
Aufgabe, um die Natur derselben auszusprechen und, indem wir sie aus¬
sprechen, uns ihrer nicht zu schämen, sondern auf sie stolz zu sein. Grimm
hebt nur einen Vorzug der ungenauen Wissenschaften hervor, daß sie viel
fester auf dem Boden des Vaterlandes stehen. Er hätte sagen können, daß
mit dem sittlichen Menschengeist nur die ungenauen Wissenschaften un¬
mittelbar zu thun haben oder, daß die Wissenschaft des Sittlichen eine unge¬
naue ist.

Ist denn eine ungenaue Wissenschaft noch Wissenschaft, liegt in der Be¬
zeichnung nicht eine comet'kulietio in ach'eeto? Nein! Wenn schon die Mathe¬
matik Operationen mit unbestimmten Größen kennt, so kennt noch mehr die
Geisteswissenschaft solche mit niemals völlig bestimmbaren Kräften. Nicht ab¬
solut bestimmbar, darum doch nicht vom Wissen ausgeschlossen, darum doch
nicht unerkennbar sind die Elemente des Sittlichen; aber auch nicht trennbar
in einen absolut erkennbaren und einen ebenso unerkennbaren Theil. Viel¬
mehr gibt es Kräfte, die der Geist nur als bewegliche erfassen und in ihrer
Beweglichkeit doch erreichen kann. Herbart glaubte, auf Schleiermacher herab¬
sehen zu können, weil dieser von Naturgesetzen gesprochen, die Ausnahmen zu¬
lassen. Solche Gesetze seien keine Naturgesetze. Und Helmholtz klagt über die
philologisch vorgebildeten Schüler, welche von der Sprache her überall an
Ausnahmen gewöhnt sind. Aber anders waltet die Einheit, welche sich in
Mannigfaltiges ergießt, und die, welche nur sich selbst wiederholt. In Eines
Schauen des Mannigfaltigen ist ungenaue Wissenschaft. Ob sich die orga¬
nische Einheit in der Mannigfaltigkeit jemals wird erkennen lassen als gegen¬
seitige Beschränkung in sich völlig bestimmter Kräfte, ist ein Geheimniß, das
die arbeitende Forschung vor sich hat. So lange die Forschung bis dahin
nicht vorgedrungen, werden die ungenauen Wissenschaften nicht nur bestehen,
sondern in der Erkenntniß den ersten Platz behaupten.

Wo wir die Spuren Jacob Grimm's gehen, da finden wir nur Leben
und Freiheit. Nur in diesem Elemente wollte dieser Geist athmen.


Constantin Rößler.


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[0019] dient ein Denkmal. Hätten die Vertreter der Geisteswissenschaften doch den Muth Jacob Grimm's, zu wissen und zu bekennen, daß sie die Pfleger der ungenauen Wissenschaften sind. Hätten wir doch die Klarheit über unsere Aufgabe, um die Natur derselben auszusprechen und, indem wir sie aus¬ sprechen, uns ihrer nicht zu schämen, sondern auf sie stolz zu sein. Grimm hebt nur einen Vorzug der ungenauen Wissenschaften hervor, daß sie viel fester auf dem Boden des Vaterlandes stehen. Er hätte sagen können, daß mit dem sittlichen Menschengeist nur die ungenauen Wissenschaften un¬ mittelbar zu thun haben oder, daß die Wissenschaft des Sittlichen eine unge¬ naue ist. Ist denn eine ungenaue Wissenschaft noch Wissenschaft, liegt in der Be¬ zeichnung nicht eine comet'kulietio in ach'eeto? Nein! Wenn schon die Mathe¬ matik Operationen mit unbestimmten Größen kennt, so kennt noch mehr die Geisteswissenschaft solche mit niemals völlig bestimmbaren Kräften. Nicht ab¬ solut bestimmbar, darum doch nicht vom Wissen ausgeschlossen, darum doch nicht unerkennbar sind die Elemente des Sittlichen; aber auch nicht trennbar in einen absolut erkennbaren und einen ebenso unerkennbaren Theil. Viel¬ mehr gibt es Kräfte, die der Geist nur als bewegliche erfassen und in ihrer Beweglichkeit doch erreichen kann. Herbart glaubte, auf Schleiermacher herab¬ sehen zu können, weil dieser von Naturgesetzen gesprochen, die Ausnahmen zu¬ lassen. Solche Gesetze seien keine Naturgesetze. Und Helmholtz klagt über die philologisch vorgebildeten Schüler, welche von der Sprache her überall an Ausnahmen gewöhnt sind. Aber anders waltet die Einheit, welche sich in Mannigfaltiges ergießt, und die, welche nur sich selbst wiederholt. In Eines Schauen des Mannigfaltigen ist ungenaue Wissenschaft. Ob sich die orga¬ nische Einheit in der Mannigfaltigkeit jemals wird erkennen lassen als gegen¬ seitige Beschränkung in sich völlig bestimmter Kräfte, ist ein Geheimniß, das die arbeitende Forschung vor sich hat. So lange die Forschung bis dahin nicht vorgedrungen, werden die ungenauen Wissenschaften nicht nur bestehen, sondern in der Erkenntniß den ersten Platz behaupten. Wo wir die Spuren Jacob Grimm's gehen, da finden wir nur Leben und Freiheit. Nur in diesem Elemente wollte dieser Geist athmen. Constantin Rößler.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/19>, abgerufen am 22.07.2024.