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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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wird diese große Umgestaltung sich vollziehen, ohne daß man bedauerliche Acte
zu constatiren haben wird."

Die "Volksstimme", das Organ der Internationale in Oestreich, drückte
das kürzer aus. Sie sagte ungefähr: Die rothe Fahne ist das Symbol der
allgemeinen Menschenliebe, mögen unsre Gegner sich hüten, sie zur Fahne des
Schreckens umzugestalten.

Dies also waren die Stimmungen der Mitglieder der Internationale zu
Anfang des Jahres 1870, in dem Augenblicke, wo die durch den Staatsstreich
aufgerichtete Regierung unter der Unzufriedenheit und Verachtung der Mittel¬
klassen zu zerbröckeln anfing, und wo einige wohlmeinende, aber charakter¬
schwache Leute den Versuch machten, die Dictatur durch ein constitutionclles
Regiment zu ersetzen, welches seine Kraft aus der Einheit aller gemäßigten
Parteien schöpfen sollte, die man durch die Freiheit mit dem Kaiserthum zu
versöhnen gedachte.

Dieser Versuch wurde von seinen Anfängen an, wie man sich erinnert,
durch eine Reihenfolge von Krisen gekreuzt, von denen einige sich als vom
Zufall herrührend, nicht voraussehen und nicht vermeiden ließen, während
andere ihre Ursache in Fehlern der Regierung oder ihrer Gegner hatten. Die
Ereignisse, welche diese Krisen hervorriefen, waren die Ermordung und Be¬
stattung Victor noirs, die Arbeitseinstellung von Creuzot, die Verhaftung
Rocheforts, die Aufregung, welche das Plebiscit veranlaßte, die Affaire mit
den Orsini-Bomben, endlich die Bewerbung des Prinzen von Hohenzollern um
den spanischen Thron und die davon hergenommene Kriegserklärung.

Das erste dieser Ereignisse, welches Niemand voraussehen konnte, über¬
raschte die Internationale und die Jacobinerpartei ebenso sehr wie die Ne¬
gierung. Aber im Gegensatz zu dem, was gewöhnlich in Frankreich zu ge¬
schehen Pflegt, wenn das Volk in Aufregung gerathen ist, zeigte die Negierung
sich geschickter in der Vertheidigung als ihre Gegner im Angrisse. Die bei
den Chefs des Bundes vorgefundenen Briefe ergaben mit Evidenz, daß die
revolutionäre Partei, unsicher und getheilter Meinung, obwohl sie zwischen
dem Tode noirs und seinem Begräbniß mehrere Tage gehabt hatte, um einen
Entschluß zu fassen, den ganzen Tag ohne Plan und Leitung blieb, und sich
weder zum Benutzen einer so herrlichen Gelegenheit zu Unordnungen noch
zum Aufgeben derselben entschließen konnte. "Die Delegirten der Föderal-
Kammer", schreibt Varlin am 19. Januar an Aubry, "waren Anfangs weder
zusammengetreten, noch hatten sie sich verständigt, alle trafen sich mit der
Mehrzahl der Mitglieder der Arbeitervereine beim Begräbniß noirs. Ich kann
Sie versichern, daß die größere Hälfte derselben geneigt war, zu handeln, falls
Nochefort gesagt hätte: Nach Paris! Nochefort war Herr der Bewegung.
Er ist gescheidt und verständig genug gewesen, um keinen verhänqnißvollen


Grenzboten I. 1872. 23

wird diese große Umgestaltung sich vollziehen, ohne daß man bedauerliche Acte
zu constatiren haben wird."

Die „Volksstimme", das Organ der Internationale in Oestreich, drückte
das kürzer aus. Sie sagte ungefähr: Die rothe Fahne ist das Symbol der
allgemeinen Menschenliebe, mögen unsre Gegner sich hüten, sie zur Fahne des
Schreckens umzugestalten.

Dies also waren die Stimmungen der Mitglieder der Internationale zu
Anfang des Jahres 1870, in dem Augenblicke, wo die durch den Staatsstreich
aufgerichtete Regierung unter der Unzufriedenheit und Verachtung der Mittel¬
klassen zu zerbröckeln anfing, und wo einige wohlmeinende, aber charakter¬
schwache Leute den Versuch machten, die Dictatur durch ein constitutionclles
Regiment zu ersetzen, welches seine Kraft aus der Einheit aller gemäßigten
Parteien schöpfen sollte, die man durch die Freiheit mit dem Kaiserthum zu
versöhnen gedachte.

Dieser Versuch wurde von seinen Anfängen an, wie man sich erinnert,
durch eine Reihenfolge von Krisen gekreuzt, von denen einige sich als vom
Zufall herrührend, nicht voraussehen und nicht vermeiden ließen, während
andere ihre Ursache in Fehlern der Regierung oder ihrer Gegner hatten. Die
Ereignisse, welche diese Krisen hervorriefen, waren die Ermordung und Be¬
stattung Victor noirs, die Arbeitseinstellung von Creuzot, die Verhaftung
Rocheforts, die Aufregung, welche das Plebiscit veranlaßte, die Affaire mit
den Orsini-Bomben, endlich die Bewerbung des Prinzen von Hohenzollern um
den spanischen Thron und die davon hergenommene Kriegserklärung.

Das erste dieser Ereignisse, welches Niemand voraussehen konnte, über¬
raschte die Internationale und die Jacobinerpartei ebenso sehr wie die Ne¬
gierung. Aber im Gegensatz zu dem, was gewöhnlich in Frankreich zu ge¬
schehen Pflegt, wenn das Volk in Aufregung gerathen ist, zeigte die Negierung
sich geschickter in der Vertheidigung als ihre Gegner im Angrisse. Die bei
den Chefs des Bundes vorgefundenen Briefe ergaben mit Evidenz, daß die
revolutionäre Partei, unsicher und getheilter Meinung, obwohl sie zwischen
dem Tode noirs und seinem Begräbniß mehrere Tage gehabt hatte, um einen
Entschluß zu fassen, den ganzen Tag ohne Plan und Leitung blieb, und sich
weder zum Benutzen einer so herrlichen Gelegenheit zu Unordnungen noch
zum Aufgeben derselben entschließen konnte. „Die Delegirten der Föderal-
Kammer", schreibt Varlin am 19. Januar an Aubry, „waren Anfangs weder
zusammengetreten, noch hatten sie sich verständigt, alle trafen sich mit der
Mehrzahl der Mitglieder der Arbeitervereine beim Begräbniß noirs. Ich kann
Sie versichern, daß die größere Hälfte derselben geneigt war, zu handeln, falls
Nochefort gesagt hätte: Nach Paris! Nochefort war Herr der Bewegung.
Er ist gescheidt und verständig genug gewesen, um keinen verhänqnißvollen


Grenzboten I. 1872. 23
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/185>, abgerufen am 24.08.2024.