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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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kürlichen Dranges, ihrer Vervollkommnung nach das Erzeugniß des Zusam¬
menwirkens von bedingter Absichtlichkeit mit dem unwillkürlich fortwaltenden
Trieb. Es ist vielleicht der Mangel einer scharfen Fassung des Freiheits¬
begriffes, eine Ausdehnung dieses Begriffes, wobei derselbe seine Grenzen bis
unmittelbar an das Gebiet der physischen Nothwendigkeit erstreckt, welche
Jacob Grimm dazu gebracht hat, die Sprache ausschließlich als Erzeugniß der
Freiheit anzusehen.

Weit tiefer ist er, wenn er die Sprache aus der denkenden Anlage des
Menschen herleitet, so daß die Sprache mit der Entfaltung des Denkens fort¬
schreitet und verfällt. Jacob Grimm sagt seinerseits'. Mit der freien Ent¬
faltung des Denkens. Darauf ist zu entgegnen: Das Denken ist die Frei¬
heit, aber erst von einer erreichten hohen Stufe an; vorher ist es nur die
Anlage zur Freiheit. Wenn aber das Denken die Stufe der Freiheit erreicht
hat, ist das Hauptwerk der Sprachbildung gethan, wie schon Hegel hervor¬
hebt. Daraus folgt, daß die Sprache zwar einer fortschreitenden Arbeit des
Menschengeistes ihre Ausbildung verdankt, daß aber die eigentliche Entwicke¬
lung der Sprache vielmehr ein unbewußtes, als ein freies Sichselbstentfalten
des Denkens ist.

Jacob Grimm unterscheidet drei Stufen der Sprachentwickelung. Zuerst
die Stufe des bloßen Nebenelncmders sinnlicher Vorstellungen, auf welcher
alle Beziehungen der Worte aufeinander mittelst selbständiger sinnlicher Vor¬
stellungen angedeutet werden. Dann die zweite Stufe, auf welcher, wie Jacob
Grimm nunmehr selbst sagt, ein unbewußt waltender Sprachgeist auf die
Nebenbegriffe schwächeres Gewicht fallen läßt, und dieselben verdünnt und ge¬
kürzt sich der Hauptvorstellung als mitbestimmende Theile anfügen. Diese
zweite Stufe bezeichnet Jacob Grimm als die des größten Reichthumes sinn¬
licher Formen der Flexion. Auf der dritten Stufe wird der Formenreich¬
thum wieder entäußert, die Beziehungsbegrisfe treten wieder als selbständige
Worte hervor, aber als grammatisch unterschiedene Wortclassen und nicht mehr
als sinnliche Vorstellungen, sondern als bloße Formbegriffe. Auf dieser Stufe
besitzt die Sprache die vollkommenste Ausdrucksfähigkeit für den inneren
Reichthum der Gedanken -- durch die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, die
sie mit einem einfachen, leicht beweglichen, aber in der Beweglichkeit stets über¬
sichtlichen Apparat beherrschen kann.

Hierbei ist es nützlich, sich zu erinnern, daß Jacob Grimm's Stufen der
Sprachentwickelung nicht zusammenfallen mit der bekannten, zuerst von Fried¬
rich Schlegel aufgestellten Spracheintheilung. Nach der letzteren zerfallen die
Sprachen in einsilbige, agglutinirende und flcctirende. Die sogenannten ein¬
silbigen Sprachen decken sich völlig mit der ersten Stufe der Sprachentwicke¬
lung bei Jacob Grimm. Die agglutinirenden Sprachen aber sind bei ihm


Grenzlwtcn II. 1872. 2

kürlichen Dranges, ihrer Vervollkommnung nach das Erzeugniß des Zusam¬
menwirkens von bedingter Absichtlichkeit mit dem unwillkürlich fortwaltenden
Trieb. Es ist vielleicht der Mangel einer scharfen Fassung des Freiheits¬
begriffes, eine Ausdehnung dieses Begriffes, wobei derselbe seine Grenzen bis
unmittelbar an das Gebiet der physischen Nothwendigkeit erstreckt, welche
Jacob Grimm dazu gebracht hat, die Sprache ausschließlich als Erzeugniß der
Freiheit anzusehen.

Weit tiefer ist er, wenn er die Sprache aus der denkenden Anlage des
Menschen herleitet, so daß die Sprache mit der Entfaltung des Denkens fort¬
schreitet und verfällt. Jacob Grimm sagt seinerseits'. Mit der freien Ent¬
faltung des Denkens. Darauf ist zu entgegnen: Das Denken ist die Frei¬
heit, aber erst von einer erreichten hohen Stufe an; vorher ist es nur die
Anlage zur Freiheit. Wenn aber das Denken die Stufe der Freiheit erreicht
hat, ist das Hauptwerk der Sprachbildung gethan, wie schon Hegel hervor¬
hebt. Daraus folgt, daß die Sprache zwar einer fortschreitenden Arbeit des
Menschengeistes ihre Ausbildung verdankt, daß aber die eigentliche Entwicke¬
lung der Sprache vielmehr ein unbewußtes, als ein freies Sichselbstentfalten
des Denkens ist.

Jacob Grimm unterscheidet drei Stufen der Sprachentwickelung. Zuerst
die Stufe des bloßen Nebenelncmders sinnlicher Vorstellungen, auf welcher
alle Beziehungen der Worte aufeinander mittelst selbständiger sinnlicher Vor¬
stellungen angedeutet werden. Dann die zweite Stufe, auf welcher, wie Jacob
Grimm nunmehr selbst sagt, ein unbewußt waltender Sprachgeist auf die
Nebenbegriffe schwächeres Gewicht fallen läßt, und dieselben verdünnt und ge¬
kürzt sich der Hauptvorstellung als mitbestimmende Theile anfügen. Diese
zweite Stufe bezeichnet Jacob Grimm als die des größten Reichthumes sinn¬
licher Formen der Flexion. Auf der dritten Stufe wird der Formenreich¬
thum wieder entäußert, die Beziehungsbegrisfe treten wieder als selbständige
Worte hervor, aber als grammatisch unterschiedene Wortclassen und nicht mehr
als sinnliche Vorstellungen, sondern als bloße Formbegriffe. Auf dieser Stufe
besitzt die Sprache die vollkommenste Ausdrucksfähigkeit für den inneren
Reichthum der Gedanken — durch die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, die
sie mit einem einfachen, leicht beweglichen, aber in der Beweglichkeit stets über¬
sichtlichen Apparat beherrschen kann.

Hierbei ist es nützlich, sich zu erinnern, daß Jacob Grimm's Stufen der
Sprachentwickelung nicht zusammenfallen mit der bekannten, zuerst von Fried¬
rich Schlegel aufgestellten Spracheintheilung. Nach der letzteren zerfallen die
Sprachen in einsilbige, agglutinirende und flcctirende. Die sogenannten ein¬
silbigen Sprachen decken sich völlig mit der ersten Stufe der Sprachentwicke¬
lung bei Jacob Grimm. Die agglutinirenden Sprachen aber sind bei ihm


Grenzlwtcn II. 1872. 2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/17>, abgerufen am 22.07.2024.