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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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kommender Zeiten Schoos in sich berge, die Macht, deren. Flamme wir noch
aufflackern sehen, wird nicht ewig über Italien lasten, und wenn Friede und
Heil des ganzen Welttheils auf Deutschlands Stärke und Freiheit beruhen,
so muß sogar diese durch eine in den Knoten der Politik noch nicht abzu¬
sehende, aber dennoch mögliche Wiederherstellung Italiens bedingt erscheinen."
War das nicht prophetisch gesprochen? Wer dachte an solche Möglichkeiten
im Jahre 1844? Die Tagespolitik kannte dergleichen nicht und hegte solche
Möglichkeiten nicht einmal als verwegene Illusionen. Der tiefe Forscher
aber, dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen, sprach sie mit kind¬
licher Zuversicht aus, angestaunt vernommen, aber gehört unbeherzigt, bis die
stillen Kräfte, deren Walten ihm vor Augen lag, sich Glauben und Gewalt
erzwangen.

Der fünfte Aufsatz enthält die Rede auf Lachmann mit ihrer unüber¬
trefflichen Charakteristik dieser Persönlichkeit und mit ihrer so einfachen und
doch erschöpfenden Gegenüberstellung der beiden Arten der Philologie, der
auf den bewegten Inhalt und der auf die krystallisirte Form gerichteten.

Der sechste Aufsatz enthält die Rede auf Wilhelm Grimm, jene Rede,
deren Eingang man nie ohne Bewegung lesen kann. In einer bekannten
Stelle des Sophokles spricht Antigone, als sie zum Tode geführt werden soll,
das Wort, daß alle Grade der Familienverwandtschaft erheblich sind, nur der
geschwisterliche nicht. Viele nahmen Anstoß an der Stelle, unter andern auch
Goethe, und neuerdings ist glücklich bis auf Weiteres entdeckt worden, daß die
Worte eingeschoben sind. Die Wahrheit derselben aber, ob sophokleisch oder
nicht, legt Jacob Grimm dar, als er vom Bruder spricht. Einfach wie das
El des Columbus ist seine Bemerkung, daß nur Geschwister ein ganzes Leben
nebeneinander durchleben können. Die Kinder haben der Eltern Jugend nicht
gesehen, die Gatten nicht einer des anderen Jugend; Eltern wissen, daß sie
der Kinder Alter nicht sehen. Nur Geschwister können von der Grenze des
Lebens mit einander ausgehen und an der anderen Grenze wieder zusammen¬
treffen, nachdem sie die zwischenliegende Bahn, mehr oder minder eng ver¬
bunden, durchwandert. Das Band, von dem Jacob Grimm sprach, war ein
vollkommenes gewesen.

Von dem siebenten Aufsatz, der vielbekannten Rede über das Alter, wen¬
den wir uns sogleich zu dem achten über Schule, Universität und Akademie.
In diesem Aussatz findet sich die schöne Vergleichung des Lehrens und Lernens
mit dem Nachweis, daß Lernen das Höhere von beiden ist. Hier haben wir
wieder den Mann in seiner innersten Eigenschaft, einen Geist, der ganz Leben
ist und nur im Lebendigen lebt. Es giebt ein todtes Lehren, das gleichwohl
Nutzen schaffen kann, aber kein todtes Lernen, das irgend was bedeutet. Ler¬
nen ist lebendiger als Lehren. Darum möchte Jacob Grimm einen Ort des


kommender Zeiten Schoos in sich berge, die Macht, deren. Flamme wir noch
aufflackern sehen, wird nicht ewig über Italien lasten, und wenn Friede und
Heil des ganzen Welttheils auf Deutschlands Stärke und Freiheit beruhen,
so muß sogar diese durch eine in den Knoten der Politik noch nicht abzu¬
sehende, aber dennoch mögliche Wiederherstellung Italiens bedingt erscheinen."
War das nicht prophetisch gesprochen? Wer dachte an solche Möglichkeiten
im Jahre 1844? Die Tagespolitik kannte dergleichen nicht und hegte solche
Möglichkeiten nicht einmal als verwegene Illusionen. Der tiefe Forscher
aber, dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen, sprach sie mit kind¬
licher Zuversicht aus, angestaunt vernommen, aber gehört unbeherzigt, bis die
stillen Kräfte, deren Walten ihm vor Augen lag, sich Glauben und Gewalt
erzwangen.

Der fünfte Aufsatz enthält die Rede auf Lachmann mit ihrer unüber¬
trefflichen Charakteristik dieser Persönlichkeit und mit ihrer so einfachen und
doch erschöpfenden Gegenüberstellung der beiden Arten der Philologie, der
auf den bewegten Inhalt und der auf die krystallisirte Form gerichteten.

Der sechste Aufsatz enthält die Rede auf Wilhelm Grimm, jene Rede,
deren Eingang man nie ohne Bewegung lesen kann. In einer bekannten
Stelle des Sophokles spricht Antigone, als sie zum Tode geführt werden soll,
das Wort, daß alle Grade der Familienverwandtschaft erheblich sind, nur der
geschwisterliche nicht. Viele nahmen Anstoß an der Stelle, unter andern auch
Goethe, und neuerdings ist glücklich bis auf Weiteres entdeckt worden, daß die
Worte eingeschoben sind. Die Wahrheit derselben aber, ob sophokleisch oder
nicht, legt Jacob Grimm dar, als er vom Bruder spricht. Einfach wie das
El des Columbus ist seine Bemerkung, daß nur Geschwister ein ganzes Leben
nebeneinander durchleben können. Die Kinder haben der Eltern Jugend nicht
gesehen, die Gatten nicht einer des anderen Jugend; Eltern wissen, daß sie
der Kinder Alter nicht sehen. Nur Geschwister können von der Grenze des
Lebens mit einander ausgehen und an der anderen Grenze wieder zusammen¬
treffen, nachdem sie die zwischenliegende Bahn, mehr oder minder eng ver¬
bunden, durchwandert. Das Band, von dem Jacob Grimm sprach, war ein
vollkommenes gewesen.

Von dem siebenten Aufsatz, der vielbekannten Rede über das Alter, wen¬
den wir uns sogleich zu dem achten über Schule, Universität und Akademie.
In diesem Aussatz findet sich die schöne Vergleichung des Lehrens und Lernens
mit dem Nachweis, daß Lernen das Höhere von beiden ist. Hier haben wir
wieder den Mann in seiner innersten Eigenschaft, einen Geist, der ganz Leben
ist und nur im Lebendigen lebt. Es giebt ein todtes Lehren, das gleichwohl
Nutzen schaffen kann, aber kein todtes Lernen, das irgend was bedeutet. Ler¬
nen ist lebendiger als Lehren. Darum möchte Jacob Grimm einen Ort des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/15>, abgerufen am 22.07.2024.