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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Wissensquells, dem die bestimmte Wissenschaft nur zur unentbehrlichen Ein¬
fassung dient.

Der dritte Aufsatz der Sammlung giebt italienische und skandinavische
Reiseeindrücke. Diese Eindrücke tragen die Form freien Geplauders wie zur
Unterhaltung. Aber sie wurden in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin
vorgelesen, und beneidenswerth wäre die Körperschaft, wie berühmt und hoch¬
gelehrt sie sei, die öfters dergleichen zu hören bekäme.

Nach einer Schilderung italienischer Natur, gegen deren wenige Striche
das Meiste verblaßt, was über den unzählige Mal.e behandelten Gegenstand
dem deutschen Leser vorkommt, geht der Reisende gleichsam spielend und bei¬
läufig zu einer Vergleichung des deutschen und des italienischen Volkes über.
Er beginnt mit einigen flüchtigen feinen Bemerkungen über Aehnlichkeiten der
beiden Sprachen, die man gewöhnlich für die am meisten von einander ab¬
stehenden unter den modernen Cultursprachen hält. Sodann wirft der Reisende
einen Blick auf die Geschichte der Länder. Die politische Zerstückelung der
Volker sällt ihm als gemeinsamer Zug auf. Man erwäge, daß die Abhand¬
lung, von der wir hier sprechen, im Jahre 1844 gelesen wurde. Grimm sagt:
"In Deutschland und in Italien sind es zwei Ideale und höhere Einflüsse
von beinahe gleicher Stärke, welche die Zerstückelung zugleich begünstigten und
entschuldigten: Kaiser und Papst. Es ist in der Geschichte ohne anderes Bei¬
spiel, daß eine große, ihrer Macht und Thaten sich bewußte Nation solche
Zerstückelung erfuhr wie die deutsche. Durch lang hergebrachte, mißverstan¬
dene Anwendung der gemeinen Erbfolge wurden edle Volksstämme gesprengt,
unter sich sondernde Söhne, ja an die Männer von Erbtöchtern hingegeben,
und im verminderten Umfang der Gebiete auch Band und Gefühl des alten
Zusammenhanges geschwächt. Was sich nicht vererben ließ , konnte durch
Kauf, Tausch und Gewaltstreiche in andere Hand gebracht werden: gegen
solchen entnervenden Wechsel der Fürsten und Herren im Mittelalter sind
Verlust und Eroberung, die aus Schlachten hervorgehen, ein Glück zu nennen;
weil in den Herzen sie die männliche.Empfindung des Siegs oder der Rache
hinterlassen, jene langsam und ungewahrt abstumpfen." Hiergegen vergleiche "
man die kürzlich an diesem Orte von uns erwähnten Fabeln, die Gervinus
über deutsche Territorialität auftischt. Dieser giebt vor, zu glauben, es habe
der Wiener Congreß in Deutschland gerade so viel Stämme vorgefunden, als
diese beruflose Versammlung deutsche Bundesstaaten sanctionirt hat; er giebt
vor, zu glauben, die deutschen Stämme wohnten so zerrissen, wie die Grenzen
der sogenannten deutschen Staaten zur Zeit des Bundes waren, dessen von
Gervinus beweinte Zerstörung mit ihren vernichteten "Stämmen" das segens¬
reichste Werk der deutschen Geschichte ist.


Wissensquells, dem die bestimmte Wissenschaft nur zur unentbehrlichen Ein¬
fassung dient.

Der dritte Aufsatz der Sammlung giebt italienische und skandinavische
Reiseeindrücke. Diese Eindrücke tragen die Form freien Geplauders wie zur
Unterhaltung. Aber sie wurden in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin
vorgelesen, und beneidenswerth wäre die Körperschaft, wie berühmt und hoch¬
gelehrt sie sei, die öfters dergleichen zu hören bekäme.

Nach einer Schilderung italienischer Natur, gegen deren wenige Striche
das Meiste verblaßt, was über den unzählige Mal.e behandelten Gegenstand
dem deutschen Leser vorkommt, geht der Reisende gleichsam spielend und bei¬
läufig zu einer Vergleichung des deutschen und des italienischen Volkes über.
Er beginnt mit einigen flüchtigen feinen Bemerkungen über Aehnlichkeiten der
beiden Sprachen, die man gewöhnlich für die am meisten von einander ab¬
stehenden unter den modernen Cultursprachen hält. Sodann wirft der Reisende
einen Blick auf die Geschichte der Länder. Die politische Zerstückelung der
Volker sällt ihm als gemeinsamer Zug auf. Man erwäge, daß die Abhand¬
lung, von der wir hier sprechen, im Jahre 1844 gelesen wurde. Grimm sagt:
„In Deutschland und in Italien sind es zwei Ideale und höhere Einflüsse
von beinahe gleicher Stärke, welche die Zerstückelung zugleich begünstigten und
entschuldigten: Kaiser und Papst. Es ist in der Geschichte ohne anderes Bei¬
spiel, daß eine große, ihrer Macht und Thaten sich bewußte Nation solche
Zerstückelung erfuhr wie die deutsche. Durch lang hergebrachte, mißverstan¬
dene Anwendung der gemeinen Erbfolge wurden edle Volksstämme gesprengt,
unter sich sondernde Söhne, ja an die Männer von Erbtöchtern hingegeben,
und im verminderten Umfang der Gebiete auch Band und Gefühl des alten
Zusammenhanges geschwächt. Was sich nicht vererben ließ , konnte durch
Kauf, Tausch und Gewaltstreiche in andere Hand gebracht werden: gegen
solchen entnervenden Wechsel der Fürsten und Herren im Mittelalter sind
Verlust und Eroberung, die aus Schlachten hervorgehen, ein Glück zu nennen;
weil in den Herzen sie die männliche.Empfindung des Siegs oder der Rache
hinterlassen, jene langsam und ungewahrt abstumpfen." Hiergegen vergleiche «
man die kürzlich an diesem Orte von uns erwähnten Fabeln, die Gervinus
über deutsche Territorialität auftischt. Dieser giebt vor, zu glauben, es habe
der Wiener Congreß in Deutschland gerade so viel Stämme vorgefunden, als
diese beruflose Versammlung deutsche Bundesstaaten sanctionirt hat; er giebt
vor, zu glauben, die deutschen Stämme wohnten so zerrissen, wie die Grenzen
der sogenannten deutschen Staaten zur Zeit des Bundes waren, dessen von
Gervinus beweinte Zerstörung mit ihren vernichteten „Stämmen" das segens¬
reichste Werk der deutschen Geschichte ist.


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[0013] Wissensquells, dem die bestimmte Wissenschaft nur zur unentbehrlichen Ein¬ fassung dient. Der dritte Aufsatz der Sammlung giebt italienische und skandinavische Reiseeindrücke. Diese Eindrücke tragen die Form freien Geplauders wie zur Unterhaltung. Aber sie wurden in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesen, und beneidenswerth wäre die Körperschaft, wie berühmt und hoch¬ gelehrt sie sei, die öfters dergleichen zu hören bekäme. Nach einer Schilderung italienischer Natur, gegen deren wenige Striche das Meiste verblaßt, was über den unzählige Mal.e behandelten Gegenstand dem deutschen Leser vorkommt, geht der Reisende gleichsam spielend und bei¬ läufig zu einer Vergleichung des deutschen und des italienischen Volkes über. Er beginnt mit einigen flüchtigen feinen Bemerkungen über Aehnlichkeiten der beiden Sprachen, die man gewöhnlich für die am meisten von einander ab¬ stehenden unter den modernen Cultursprachen hält. Sodann wirft der Reisende einen Blick auf die Geschichte der Länder. Die politische Zerstückelung der Volker sällt ihm als gemeinsamer Zug auf. Man erwäge, daß die Abhand¬ lung, von der wir hier sprechen, im Jahre 1844 gelesen wurde. Grimm sagt: „In Deutschland und in Italien sind es zwei Ideale und höhere Einflüsse von beinahe gleicher Stärke, welche die Zerstückelung zugleich begünstigten und entschuldigten: Kaiser und Papst. Es ist in der Geschichte ohne anderes Bei¬ spiel, daß eine große, ihrer Macht und Thaten sich bewußte Nation solche Zerstückelung erfuhr wie die deutsche. Durch lang hergebrachte, mißverstan¬ dene Anwendung der gemeinen Erbfolge wurden edle Volksstämme gesprengt, unter sich sondernde Söhne, ja an die Männer von Erbtöchtern hingegeben, und im verminderten Umfang der Gebiete auch Band und Gefühl des alten Zusammenhanges geschwächt. Was sich nicht vererben ließ , konnte durch Kauf, Tausch und Gewaltstreiche in andere Hand gebracht werden: gegen solchen entnervenden Wechsel der Fürsten und Herren im Mittelalter sind Verlust und Eroberung, die aus Schlachten hervorgehen, ein Glück zu nennen; weil in den Herzen sie die männliche.Empfindung des Siegs oder der Rache hinterlassen, jene langsam und ungewahrt abstumpfen." Hiergegen vergleiche « man die kürzlich an diesem Orte von uns erwähnten Fabeln, die Gervinus über deutsche Territorialität auftischt. Dieser giebt vor, zu glauben, es habe der Wiener Congreß in Deutschland gerade so viel Stämme vorgefunden, als diese beruflose Versammlung deutsche Bundesstaaten sanctionirt hat; er giebt vor, zu glauben, die deutschen Stämme wohnten so zerrissen, wie die Grenzen der sogenannten deutschen Staaten zur Zeit des Bundes waren, dessen von Gervinus beweinte Zerstörung mit ihren vernichteten „Stämmen" das segens¬ reichste Werk der deutschen Geschichte ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/13>, abgerufen am 22.07.2024.