Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

geben, damit ein urkundenmäßiger Nachweis seiner Verwaltung geführt wer¬
den könnte; warum haben wir in Sachsen nichts Aehnliches?

III, Begriff der höheren Schule. Ueber den Begriff der höheren
Schule herrscht in Sachsen im Allgemeinen noch viel Unklarheit. Bald wird
schon die erste Bürgerschule größerer Städte zur höheren Schule gerechnet,
bald wird letztere mit den Fachschulen zusammengeworfen. Diese Unklarheit
verwirrt die wichtige Angelegenheit der Lehrerbildung und erschwert die Frage,
ob die höheren Schulen Staatsanstalten oder städtische Anstalten sein sollen.

Auch in der officiellen Sprache ist der Begriff der höheren Schule
nicht festgestellt. -- Einige Ministerialverordnungen führen als höhere Schu¬
len auf: Gymnasien, Progymnasien, Lehrerseminare, höhere Bürger- und
Realschulen; aber welcher Umfang einem Progymnasium oder einer höheren
Bürgerschule zukommt, wer will das in Sachsen sagen? Das Ministerium
selbst ist geneigt, den Unterschied zwischen Volksschule und höherer Schule
einerseits, und zwischen Fachschule und höherer Schule andrerseits zu ver¬
wischen. Eine Verordnung vom 15. April 1850 stellt geradezu die Lehrer¬
seminare, die höheren Bürgerschulen und Realschulen mit der Volksschule
auf gleiche Stufe, indem das Ministerium darin die Erklärung abgibt, daß
es ihm "unthunlich" und "bedenklich" erscheine, für die genannten Schulen
einen Unterschied zwischen Volksschullehrern und akademisch gebildeten Lehrern
zu machen. Ferner kann man in den Nachträgen zu dem Realschulregulativ
vom 2. December 1870 lesen, daß für die Realschulen II. Ordnung einiger
Fachunterricht, wie z. B. im kaufmännischen Rechnen und in der Buchführung
nachgelassen ist, und bekannt ist die Absicht der Regierung, mit der Realschule
I. O. in Döbeln einige Fachklasfen für Landwirthe zu verbinden. Bei solchen
Maßnahmen kann doch wohl von einer tieferen Auffassung der Bedeutung
der höheren Schule nicht die Rede sein.

Anders begreift man in Preußen die allgemeine Aufgabe der Realschulen
und höheren Bürgerschulen und die Bedeutung, welche dieselben für das öffent¬
liche Leben und die nationale Bildung erlangt haben. "Die Realschulen und
die höheren Bürgerschulen," heißt es unter anderen in der Unterrichts - und
Prüfungsordnung v. 6. Oct. 1889, "haben die Aufgabe, eine wissenschaft¬
liche Vorbildung für die höheren Berufsarten zu geben, zu denen akade¬
mische Facultätsstudien nicht erforderlich sind. Für ihre Einrichtung ist daher
nicht das nächste Bedürfniß des praktischen Lebens maßgebend,
sondern der Zweck, bei der diesen Schulen anvertrauten Jugend das geistige
Vermögen zu derjenigen Entwickelung zu bringen, welche die nothwendige
Voraussetzung einer freien und selbstständigen Erfassung des späteren Lebens¬
berufs bildet. Sie sind keine Fachschulen, sondern haben es, wie das


Grcnzlwten II. 1871. 82

geben, damit ein urkundenmäßiger Nachweis seiner Verwaltung geführt wer¬
den könnte; warum haben wir in Sachsen nichts Aehnliches?

III, Begriff der höheren Schule. Ueber den Begriff der höheren
Schule herrscht in Sachsen im Allgemeinen noch viel Unklarheit. Bald wird
schon die erste Bürgerschule größerer Städte zur höheren Schule gerechnet,
bald wird letztere mit den Fachschulen zusammengeworfen. Diese Unklarheit
verwirrt die wichtige Angelegenheit der Lehrerbildung und erschwert die Frage,
ob die höheren Schulen Staatsanstalten oder städtische Anstalten sein sollen.

Auch in der officiellen Sprache ist der Begriff der höheren Schule
nicht festgestellt. — Einige Ministerialverordnungen führen als höhere Schu¬
len auf: Gymnasien, Progymnasien, Lehrerseminare, höhere Bürger- und
Realschulen; aber welcher Umfang einem Progymnasium oder einer höheren
Bürgerschule zukommt, wer will das in Sachsen sagen? Das Ministerium
selbst ist geneigt, den Unterschied zwischen Volksschule und höherer Schule
einerseits, und zwischen Fachschule und höherer Schule andrerseits zu ver¬
wischen. Eine Verordnung vom 15. April 1850 stellt geradezu die Lehrer¬
seminare, die höheren Bürgerschulen und Realschulen mit der Volksschule
auf gleiche Stufe, indem das Ministerium darin die Erklärung abgibt, daß
es ihm „unthunlich" und „bedenklich" erscheine, für die genannten Schulen
einen Unterschied zwischen Volksschullehrern und akademisch gebildeten Lehrern
zu machen. Ferner kann man in den Nachträgen zu dem Realschulregulativ
vom 2. December 1870 lesen, daß für die Realschulen II. Ordnung einiger
Fachunterricht, wie z. B. im kaufmännischen Rechnen und in der Buchführung
nachgelassen ist, und bekannt ist die Absicht der Regierung, mit der Realschule
I. O. in Döbeln einige Fachklasfen für Landwirthe zu verbinden. Bei solchen
Maßnahmen kann doch wohl von einer tieferen Auffassung der Bedeutung
der höheren Schule nicht die Rede sein.

Anders begreift man in Preußen die allgemeine Aufgabe der Realschulen
und höheren Bürgerschulen und die Bedeutung, welche dieselben für das öffent¬
liche Leben und die nationale Bildung erlangt haben. „Die Realschulen und
die höheren Bürgerschulen," heißt es unter anderen in der Unterrichts - und
Prüfungsordnung v. 6. Oct. 1889, „haben die Aufgabe, eine wissenschaft¬
liche Vorbildung für die höheren Berufsarten zu geben, zu denen akade¬
mische Facultätsstudien nicht erforderlich sind. Für ihre Einrichtung ist daher
nicht das nächste Bedürfniß des praktischen Lebens maßgebend,
sondern der Zweck, bei der diesen Schulen anvertrauten Jugend das geistige
Vermögen zu derjenigen Entwickelung zu bringen, welche die nothwendige
Voraussetzung einer freien und selbstständigen Erfassung des späteren Lebens¬
berufs bildet. Sie sind keine Fachschulen, sondern haben es, wie das


Grcnzlwten II. 1871. 82
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192397"/>
            <p xml:id="ID_359" prev="#ID_358"> geben, damit ein urkundenmäßiger Nachweis seiner Verwaltung geführt wer¬<lb/>
den könnte; warum haben wir in Sachsen nichts Aehnliches?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_360"> III, Begriff der höheren Schule. Ueber den Begriff der höheren<lb/>
Schule herrscht in Sachsen im Allgemeinen noch viel Unklarheit. Bald wird<lb/>
schon die erste Bürgerschule größerer Städte zur höheren Schule gerechnet,<lb/>
bald wird letztere mit den Fachschulen zusammengeworfen. Diese Unklarheit<lb/>
verwirrt die wichtige Angelegenheit der Lehrerbildung und erschwert die Frage,<lb/>
ob die höheren Schulen Staatsanstalten oder städtische Anstalten sein sollen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_361"> Auch in der officiellen Sprache ist der Begriff der höheren Schule<lb/>
nicht festgestellt. &#x2014; Einige Ministerialverordnungen führen als höhere Schu¬<lb/>
len auf: Gymnasien, Progymnasien, Lehrerseminare, höhere Bürger- und<lb/>
Realschulen; aber welcher Umfang einem Progymnasium oder einer höheren<lb/>
Bürgerschule zukommt, wer will das in Sachsen sagen? Das Ministerium<lb/>
selbst ist geneigt, den Unterschied zwischen Volksschule und höherer Schule<lb/>
einerseits, und zwischen Fachschule und höherer Schule andrerseits zu ver¬<lb/>
wischen. Eine Verordnung vom 15. April 1850 stellt geradezu die Lehrer¬<lb/>
seminare, die höheren Bürgerschulen und Realschulen mit der Volksschule<lb/>
auf gleiche Stufe, indem das Ministerium darin die Erklärung abgibt, daß<lb/>
es ihm &#x201E;unthunlich" und &#x201E;bedenklich" erscheine, für die genannten Schulen<lb/>
einen Unterschied zwischen Volksschullehrern und akademisch gebildeten Lehrern<lb/>
zu machen. Ferner kann man in den Nachträgen zu dem Realschulregulativ<lb/>
vom 2. December 1870 lesen, daß für die Realschulen II. Ordnung einiger<lb/>
Fachunterricht, wie z. B. im kaufmännischen Rechnen und in der Buchführung<lb/>
nachgelassen ist, und bekannt ist die Absicht der Regierung, mit der Realschule<lb/>
I. O. in Döbeln einige Fachklasfen für Landwirthe zu verbinden. Bei solchen<lb/>
Maßnahmen kann doch wohl von einer tieferen Auffassung der Bedeutung<lb/>
der höheren Schule nicht die Rede sein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_362" next="#ID_363"> Anders begreift man in Preußen die allgemeine Aufgabe der Realschulen<lb/>
und höheren Bürgerschulen und die Bedeutung, welche dieselben für das öffent¬<lb/>
liche Leben und die nationale Bildung erlangt haben. &#x201E;Die Realschulen und<lb/>
die höheren Bürgerschulen," heißt es unter anderen in der Unterrichts - und<lb/>
Prüfungsordnung v. 6. Oct. 1889, &#x201E;haben die Aufgabe, eine wissenschaft¬<lb/>
liche Vorbildung für die höheren Berufsarten zu geben, zu denen akade¬<lb/>
mische Facultätsstudien nicht erforderlich sind. Für ihre Einrichtung ist daher<lb/>
nicht das nächste Bedürfniß des praktischen Lebens maßgebend,<lb/>
sondern der Zweck, bei der diesen Schulen anvertrauten Jugend das geistige<lb/>
Vermögen zu derjenigen Entwickelung zu bringen, welche die nothwendige<lb/>
Voraussetzung einer freien und selbstständigen Erfassung des späteren Lebens¬<lb/>
berufs bildet. Sie sind keine Fachschulen, sondern haben es, wie das</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grcnzlwten II. 1871. 82</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0097] geben, damit ein urkundenmäßiger Nachweis seiner Verwaltung geführt wer¬ den könnte; warum haben wir in Sachsen nichts Aehnliches? III, Begriff der höheren Schule. Ueber den Begriff der höheren Schule herrscht in Sachsen im Allgemeinen noch viel Unklarheit. Bald wird schon die erste Bürgerschule größerer Städte zur höheren Schule gerechnet, bald wird letztere mit den Fachschulen zusammengeworfen. Diese Unklarheit verwirrt die wichtige Angelegenheit der Lehrerbildung und erschwert die Frage, ob die höheren Schulen Staatsanstalten oder städtische Anstalten sein sollen. Auch in der officiellen Sprache ist der Begriff der höheren Schule nicht festgestellt. — Einige Ministerialverordnungen führen als höhere Schu¬ len auf: Gymnasien, Progymnasien, Lehrerseminare, höhere Bürger- und Realschulen; aber welcher Umfang einem Progymnasium oder einer höheren Bürgerschule zukommt, wer will das in Sachsen sagen? Das Ministerium selbst ist geneigt, den Unterschied zwischen Volksschule und höherer Schule einerseits, und zwischen Fachschule und höherer Schule andrerseits zu ver¬ wischen. Eine Verordnung vom 15. April 1850 stellt geradezu die Lehrer¬ seminare, die höheren Bürgerschulen und Realschulen mit der Volksschule auf gleiche Stufe, indem das Ministerium darin die Erklärung abgibt, daß es ihm „unthunlich" und „bedenklich" erscheine, für die genannten Schulen einen Unterschied zwischen Volksschullehrern und akademisch gebildeten Lehrern zu machen. Ferner kann man in den Nachträgen zu dem Realschulregulativ vom 2. December 1870 lesen, daß für die Realschulen II. Ordnung einiger Fachunterricht, wie z. B. im kaufmännischen Rechnen und in der Buchführung nachgelassen ist, und bekannt ist die Absicht der Regierung, mit der Realschule I. O. in Döbeln einige Fachklasfen für Landwirthe zu verbinden. Bei solchen Maßnahmen kann doch wohl von einer tieferen Auffassung der Bedeutung der höheren Schule nicht die Rede sein. Anders begreift man in Preußen die allgemeine Aufgabe der Realschulen und höheren Bürgerschulen und die Bedeutung, welche dieselben für das öffent¬ liche Leben und die nationale Bildung erlangt haben. „Die Realschulen und die höheren Bürgerschulen," heißt es unter anderen in der Unterrichts - und Prüfungsordnung v. 6. Oct. 1889, „haben die Aufgabe, eine wissenschaft¬ liche Vorbildung für die höheren Berufsarten zu geben, zu denen akade¬ mische Facultätsstudien nicht erforderlich sind. Für ihre Einrichtung ist daher nicht das nächste Bedürfniß des praktischen Lebens maßgebend, sondern der Zweck, bei der diesen Schulen anvertrauten Jugend das geistige Vermögen zu derjenigen Entwickelung zu bringen, welche die nothwendige Voraussetzung einer freien und selbstständigen Erfassung des späteren Lebens¬ berufs bildet. Sie sind keine Fachschulen, sondern haben es, wie das Grcnzlwten II. 1871. 82

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/97
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/97>, abgerufen am 05.02.2025.