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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Italienischen Reise in den Hauptpunkten völlig Eins sind, sagt Goethe selbst,
so daß er dem Herder'schen Gespräche über Gott völlig beistimmen kann; daß
beide vorher, im Jahre 1784, auf Veranlassung des Jacobi-Mendelsohn-
schen Streits über Lessing's Spinozismus, den Spinoza noch einmal durch-
studirt haben, ist auch zweifellos.

Aber Goethe studirt auch da den Spinoza erst auf Herder's Anregung,
wie aus einem Briefe an Fr. H^ Jacobi hervorgeht; ja es scheint, als ob er
ihn damals überhaupt zum ersten Mal wirklich läse. Herder hatte sich aber
schon zu Ende des Nigaer Aufenthalts Auszüge aus Spinoza gemacht, die
dasselbe Verständniß für den Philosophen zeigen, wie 18 Jahre später. Wenn
also von beiden zu Straßburg in dem inhaltreichen Winter von l770--71
auch über Spinoza gegrübelt ward, wie es sowohl nach Goethe'sehen wie Her-
der'sehen Bericht feststeht, so kann kaum ein Zweifel sein, von wem der Im¬
puls ausging.

Was Goethe von Klopstock unterschied, war vorzüglich die Freiheit von
allem ungesunden Ueberschwang, von convulsivischer Exaltation; er hatte schon
in seinen Jugendjahren einen reinen, natürlichen Zug zu edlem Maß und
ruhiger Einfalt. Diese eigenthümliche Anlage seines Wesens ward weiter
ausgebildet in dem Studium der Griechen; auch zu den Griechen ward er
durch Herder geleitet. Was er an ihnen hatte, fühlte Goethe schon in Stra߬
burg; um den Freunden, welchen er die (auch von Herder inspirirte) Shake¬
speare-Rede hielt, die Eigenthümlichkeit dieses griechischen Wesens, das er
fühlte, aber noch nicht erklären konnte, wenigstens anzudeuten, berief er sich
"der Kürze halber" auf Homer, Sophokles und Theokrit, "die Haben's ihn
fühlen gelehrt". Und die Griechen ließen ihn nun nicht los; in Wanderers
Sturmlied treten sie uns wieder entgegen: Ancckreon, Theokrit, Pindar. Wer¬
ther studirt die Griechen, wie sein reales Gegenbild: man weiß es aus Kest-
ner's Bericht. Merkte er bald, worin sich griechische Auffassungsweise von
dem prometheisch-faustischen Drang seiner Seele unterschied? Die Griechen
begleiten ihn nach Weimar, immer tiefer fühlte er ihres Geistes Hauch; bald
stand Herder wieder an seiner Seite; er konnte ihn begriffsmäßig lehren, was
griechische Art sei.

Er hat es in der schönen Abhandlung "Nemesis" (Zerstreute Blätter 178K)
so entwickelt: "Den Griechen hat die Muse jenen reinen Anblick aller Ge¬
stalten in Kunst und Dichtkunst, jenes unübertriebene und nichts übertreibende
Gefühl für das Wahre und Schöne aller Art gegeben, das Allen einen
so klaren Umriß, eine so bedeutungsvolle Grazie anschuf, als wir bei andern
Völkern vergebens suchen dürsten." Und später heißt's: "Es scheint, daß wir
diesen sanften Umriß des menschlichen Daseins ziemlich aus den Augen ver¬
loren haben, indem wir glauben, daß die Vorsehung immer nur dazu mit


Italienischen Reise in den Hauptpunkten völlig Eins sind, sagt Goethe selbst,
so daß er dem Herder'schen Gespräche über Gott völlig beistimmen kann; daß
beide vorher, im Jahre 1784, auf Veranlassung des Jacobi-Mendelsohn-
schen Streits über Lessing's Spinozismus, den Spinoza noch einmal durch-
studirt haben, ist auch zweifellos.

Aber Goethe studirt auch da den Spinoza erst auf Herder's Anregung,
wie aus einem Briefe an Fr. H^ Jacobi hervorgeht; ja es scheint, als ob er
ihn damals überhaupt zum ersten Mal wirklich läse. Herder hatte sich aber
schon zu Ende des Nigaer Aufenthalts Auszüge aus Spinoza gemacht, die
dasselbe Verständniß für den Philosophen zeigen, wie 18 Jahre später. Wenn
also von beiden zu Straßburg in dem inhaltreichen Winter von l770—71
auch über Spinoza gegrübelt ward, wie es sowohl nach Goethe'sehen wie Her-
der'sehen Bericht feststeht, so kann kaum ein Zweifel sein, von wem der Im¬
puls ausging.

Was Goethe von Klopstock unterschied, war vorzüglich die Freiheit von
allem ungesunden Ueberschwang, von convulsivischer Exaltation; er hatte schon
in seinen Jugendjahren einen reinen, natürlichen Zug zu edlem Maß und
ruhiger Einfalt. Diese eigenthümliche Anlage seines Wesens ward weiter
ausgebildet in dem Studium der Griechen; auch zu den Griechen ward er
durch Herder geleitet. Was er an ihnen hatte, fühlte Goethe schon in Stra߬
burg; um den Freunden, welchen er die (auch von Herder inspirirte) Shake¬
speare-Rede hielt, die Eigenthümlichkeit dieses griechischen Wesens, das er
fühlte, aber noch nicht erklären konnte, wenigstens anzudeuten, berief er sich
„der Kürze halber" auf Homer, Sophokles und Theokrit, „die Haben's ihn
fühlen gelehrt". Und die Griechen ließen ihn nun nicht los; in Wanderers
Sturmlied treten sie uns wieder entgegen: Ancckreon, Theokrit, Pindar. Wer¬
ther studirt die Griechen, wie sein reales Gegenbild: man weiß es aus Kest-
ner's Bericht. Merkte er bald, worin sich griechische Auffassungsweise von
dem prometheisch-faustischen Drang seiner Seele unterschied? Die Griechen
begleiten ihn nach Weimar, immer tiefer fühlte er ihres Geistes Hauch; bald
stand Herder wieder an seiner Seite; er konnte ihn begriffsmäßig lehren, was
griechische Art sei.

Er hat es in der schönen Abhandlung „Nemesis" (Zerstreute Blätter 178K)
so entwickelt: „Den Griechen hat die Muse jenen reinen Anblick aller Ge¬
stalten in Kunst und Dichtkunst, jenes unübertriebene und nichts übertreibende
Gefühl für das Wahre und Schöne aller Art gegeben, das Allen einen
so klaren Umriß, eine so bedeutungsvolle Grazie anschuf, als wir bei andern
Völkern vergebens suchen dürsten." Und später heißt's: „Es scheint, daß wir
diesen sanften Umriß des menschlichen Daseins ziemlich aus den Augen ver¬
loren haben, indem wir glauben, daß die Vorsehung immer nur dazu mit


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[0064] Italienischen Reise in den Hauptpunkten völlig Eins sind, sagt Goethe selbst, so daß er dem Herder'schen Gespräche über Gott völlig beistimmen kann; daß beide vorher, im Jahre 1784, auf Veranlassung des Jacobi-Mendelsohn- schen Streits über Lessing's Spinozismus, den Spinoza noch einmal durch- studirt haben, ist auch zweifellos. Aber Goethe studirt auch da den Spinoza erst auf Herder's Anregung, wie aus einem Briefe an Fr. H^ Jacobi hervorgeht; ja es scheint, als ob er ihn damals überhaupt zum ersten Mal wirklich läse. Herder hatte sich aber schon zu Ende des Nigaer Aufenthalts Auszüge aus Spinoza gemacht, die dasselbe Verständniß für den Philosophen zeigen, wie 18 Jahre später. Wenn also von beiden zu Straßburg in dem inhaltreichen Winter von l770—71 auch über Spinoza gegrübelt ward, wie es sowohl nach Goethe'sehen wie Her- der'sehen Bericht feststeht, so kann kaum ein Zweifel sein, von wem der Im¬ puls ausging. Was Goethe von Klopstock unterschied, war vorzüglich die Freiheit von allem ungesunden Ueberschwang, von convulsivischer Exaltation; er hatte schon in seinen Jugendjahren einen reinen, natürlichen Zug zu edlem Maß und ruhiger Einfalt. Diese eigenthümliche Anlage seines Wesens ward weiter ausgebildet in dem Studium der Griechen; auch zu den Griechen ward er durch Herder geleitet. Was er an ihnen hatte, fühlte Goethe schon in Stra߬ burg; um den Freunden, welchen er die (auch von Herder inspirirte) Shake¬ speare-Rede hielt, die Eigenthümlichkeit dieses griechischen Wesens, das er fühlte, aber noch nicht erklären konnte, wenigstens anzudeuten, berief er sich „der Kürze halber" auf Homer, Sophokles und Theokrit, „die Haben's ihn fühlen gelehrt". Und die Griechen ließen ihn nun nicht los; in Wanderers Sturmlied treten sie uns wieder entgegen: Ancckreon, Theokrit, Pindar. Wer¬ ther studirt die Griechen, wie sein reales Gegenbild: man weiß es aus Kest- ner's Bericht. Merkte er bald, worin sich griechische Auffassungsweise von dem prometheisch-faustischen Drang seiner Seele unterschied? Die Griechen begleiten ihn nach Weimar, immer tiefer fühlte er ihres Geistes Hauch; bald stand Herder wieder an seiner Seite; er konnte ihn begriffsmäßig lehren, was griechische Art sei. Er hat es in der schönen Abhandlung „Nemesis" (Zerstreute Blätter 178K) so entwickelt: „Den Griechen hat die Muse jenen reinen Anblick aller Ge¬ stalten in Kunst und Dichtkunst, jenes unübertriebene und nichts übertreibende Gefühl für das Wahre und Schöne aller Art gegeben, das Allen einen so klaren Umriß, eine so bedeutungsvolle Grazie anschuf, als wir bei andern Völkern vergebens suchen dürsten." Und später heißt's: „Es scheint, daß wir diesen sanften Umriß des menschlichen Daseins ziemlich aus den Augen ver¬ loren haben, indem wir glauben, daß die Vorsehung immer nur dazu mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/64>, abgerufen am 05.02.2025.