Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Ist diese Verklärung, Weiterbildung der entlehnten Form auch Herder-
sches Verdienst? Der behutsame Analyse wird sie als Ergebniß und Ausfluß
der originalen Anlage des Dichters selbst bezeichnen müssen. Aber von dem
Inhalt kommt Einiges wohl wieder auf Rechnung Herder'scher Anregungen;
zunächst was verwandt ist mit dem, was Klopstock in der Frühlingsfeier äußert,
und dann auch wohl die eigenthümliche spinozistische Modification der Klop-
stock'schen Religiosität,

Zunächst muß man sich gegenwärtig halten, daß man es mit Gefühlen
zu thun hat, die in dieser Zeit Grundstimmung der Dichterseele zu sein schei¬
nen; Werther und Faust sehnen sich ähnlich wie der Dithyrambiker, auf Flügeln
des Adlers oder Kranichs den Schranken des Irdischen entrückt zu werden.

Wenn Werther in dem Wimmeln der Frühlingswürmchen die Ge¬
genwart des Allmächtigen fühlt, fühlt das Wehen des Alllieben¬
den, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält, so drängt er
sich wie vergöttert heran an das innere, glühende, heilige Leben der Na¬
tur und sehnt sich mit den Fittigen des Kranichs zu dem Ufer des unge¬
messenen Meeres, um aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene
schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick in der uneinge¬
schränkten Kraft seines Busens einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu
fühlen, das Alles in sich und durch sich hervorbringt.

Und nach Faust's Meinung ist jedem eingeboren,


Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,
Wenn über schroffen Fichtenhöhn
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimath strebt.

Also dreimal derselbe eigenthümliche Drang, sich in's All zu versenken;
ist es eine originale Regung der Seele? Liest man die Frühlingsfeier vorher,
so spürt man im Ganymed und in der Wertherstelle schon an der Wahl der
Worte deutlichste Nachwirkung; und kennt man Giordano Bruno und Spi¬
noza, so findet man kaum noch etwas, was der Dichter sich selbst verdankt,
als jene schöne Vermischung pantheistischer und christlicher Andacht zu so herzig
dichterischen einschmeichelnden Sehnsuchtslauten.

Wer führte aber Goethe zu jenem Gedichte Klopstock's, wer zu Spinoza,
als Herder? In Beziehung auf Spinoza setzen Manche umgekehrt eine Ein¬
wirkung Goethe's auf Herder voraus, und nehmen dieselbe erst in den 80er
Jahren an, z. B. Hettner in der Geschichte der deutschen Literatur im I8ten
Jahrhundert (III, 2. S. 73) und Tochter in seinem Buche über Schiller's
Verhältniß zur Wissenschaft (S. 92). Daß Goethe und Herder zur Zeit der


Ist diese Verklärung, Weiterbildung der entlehnten Form auch Herder-
sches Verdienst? Der behutsame Analyse wird sie als Ergebniß und Ausfluß
der originalen Anlage des Dichters selbst bezeichnen müssen. Aber von dem
Inhalt kommt Einiges wohl wieder auf Rechnung Herder'scher Anregungen;
zunächst was verwandt ist mit dem, was Klopstock in der Frühlingsfeier äußert,
und dann auch wohl die eigenthümliche spinozistische Modification der Klop-
stock'schen Religiosität,

Zunächst muß man sich gegenwärtig halten, daß man es mit Gefühlen
zu thun hat, die in dieser Zeit Grundstimmung der Dichterseele zu sein schei¬
nen; Werther und Faust sehnen sich ähnlich wie der Dithyrambiker, auf Flügeln
des Adlers oder Kranichs den Schranken des Irdischen entrückt zu werden.

Wenn Werther in dem Wimmeln der Frühlingswürmchen die Ge¬
genwart des Allmächtigen fühlt, fühlt das Wehen des Alllieben¬
den, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält, so drängt er
sich wie vergöttert heran an das innere, glühende, heilige Leben der Na¬
tur und sehnt sich mit den Fittigen des Kranichs zu dem Ufer des unge¬
messenen Meeres, um aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene
schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick in der uneinge¬
schränkten Kraft seines Busens einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu
fühlen, das Alles in sich und durch sich hervorbringt.

Und nach Faust's Meinung ist jedem eingeboren,


Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,
Wenn über schroffen Fichtenhöhn
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimath strebt.

Also dreimal derselbe eigenthümliche Drang, sich in's All zu versenken;
ist es eine originale Regung der Seele? Liest man die Frühlingsfeier vorher,
so spürt man im Ganymed und in der Wertherstelle schon an der Wahl der
Worte deutlichste Nachwirkung; und kennt man Giordano Bruno und Spi¬
noza, so findet man kaum noch etwas, was der Dichter sich selbst verdankt,
als jene schöne Vermischung pantheistischer und christlicher Andacht zu so herzig
dichterischen einschmeichelnden Sehnsuchtslauten.

Wer führte aber Goethe zu jenem Gedichte Klopstock's, wer zu Spinoza,
als Herder? In Beziehung auf Spinoza setzen Manche umgekehrt eine Ein¬
wirkung Goethe's auf Herder voraus, und nehmen dieselbe erst in den 80er
Jahren an, z. B. Hettner in der Geschichte der deutschen Literatur im I8ten
Jahrhundert (III, 2. S. 73) und Tochter in seinem Buche über Schiller's
Verhältniß zur Wissenschaft (S. 92). Daß Goethe und Herder zur Zeit der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0063" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192363"/>
          <p xml:id="ID_224"> Ist diese Verklärung, Weiterbildung der entlehnten Form auch Herder-<lb/>
sches Verdienst? Der behutsame Analyse wird sie als Ergebniß und Ausfluß<lb/>
der originalen Anlage des Dichters selbst bezeichnen müssen. Aber von dem<lb/>
Inhalt kommt Einiges wohl wieder auf Rechnung Herder'scher Anregungen;<lb/>
zunächst was verwandt ist mit dem, was Klopstock in der Frühlingsfeier äußert,<lb/>
und dann auch wohl die eigenthümliche spinozistische Modification der Klop-<lb/>
stock'schen Religiosität,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_225"> Zunächst muß man sich gegenwärtig halten, daß man es mit Gefühlen<lb/>
zu thun hat, die in dieser Zeit Grundstimmung der Dichterseele zu sein schei¬<lb/>
nen; Werther und Faust sehnen sich ähnlich wie der Dithyrambiker, auf Flügeln<lb/>
des Adlers oder Kranichs den Schranken des Irdischen entrückt zu werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_226"> Wenn Werther in dem Wimmeln der Frühlingswürmchen die Ge¬<lb/>
genwart des Allmächtigen fühlt, fühlt das Wehen des Alllieben¬<lb/>
den, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält, so drängt er<lb/>
sich wie vergöttert heran an das innere, glühende, heilige Leben der Na¬<lb/>
tur und sehnt sich mit den Fittigen des Kranichs zu dem Ufer des unge¬<lb/>
messenen Meeres, um aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene<lb/>
schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick in der uneinge¬<lb/>
schränkten Kraft seines Busens einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu<lb/>
fühlen, das Alles in sich und durch sich hervorbringt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_227"> Und nach Faust's Meinung ist jedem eingeboren,</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_15" type="poem">
              <l> Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,<lb/>
Wenn über uns, im blauen Raum verloren<lb/>
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,<lb/>
Wenn über schroffen Fichtenhöhn<lb/>
Der Adler ausgebreitet schwebt<lb/>
Und über Flächen, über Seen<lb/>
Der Kranich nach der Heimath strebt.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_228"> Also dreimal derselbe eigenthümliche Drang, sich in's All zu versenken;<lb/>
ist es eine originale Regung der Seele? Liest man die Frühlingsfeier vorher,<lb/>
so spürt man im Ganymed und in der Wertherstelle schon an der Wahl der<lb/>
Worte deutlichste Nachwirkung; und kennt man Giordano Bruno und Spi¬<lb/>
noza, so findet man kaum noch etwas, was der Dichter sich selbst verdankt,<lb/>
als jene schöne Vermischung pantheistischer und christlicher Andacht zu so herzig<lb/>
dichterischen einschmeichelnden Sehnsuchtslauten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_229" next="#ID_230"> Wer führte aber Goethe zu jenem Gedichte Klopstock's, wer zu Spinoza,<lb/>
als Herder? In Beziehung auf Spinoza setzen Manche umgekehrt eine Ein¬<lb/>
wirkung Goethe's auf Herder voraus, und nehmen dieselbe erst in den 80er<lb/>
Jahren an, z. B. Hettner in der Geschichte der deutschen Literatur im I8ten<lb/>
Jahrhundert (III, 2. S. 73) und Tochter in seinem Buche über Schiller's<lb/>
Verhältniß zur Wissenschaft (S. 92). Daß Goethe und Herder zur Zeit der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0063] Ist diese Verklärung, Weiterbildung der entlehnten Form auch Herder- sches Verdienst? Der behutsame Analyse wird sie als Ergebniß und Ausfluß der originalen Anlage des Dichters selbst bezeichnen müssen. Aber von dem Inhalt kommt Einiges wohl wieder auf Rechnung Herder'scher Anregungen; zunächst was verwandt ist mit dem, was Klopstock in der Frühlingsfeier äußert, und dann auch wohl die eigenthümliche spinozistische Modification der Klop- stock'schen Religiosität, Zunächst muß man sich gegenwärtig halten, daß man es mit Gefühlen zu thun hat, die in dieser Zeit Grundstimmung der Dichterseele zu sein schei¬ nen; Werther und Faust sehnen sich ähnlich wie der Dithyrambiker, auf Flügeln des Adlers oder Kranichs den Schranken des Irdischen entrückt zu werden. Wenn Werther in dem Wimmeln der Frühlingswürmchen die Ge¬ genwart des Allmächtigen fühlt, fühlt das Wehen des Alllieben¬ den, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält, so drängt er sich wie vergöttert heran an das innere, glühende, heilige Leben der Na¬ tur und sehnt sich mit den Fittigen des Kranichs zu dem Ufer des unge¬ messenen Meeres, um aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick in der uneinge¬ schränkten Kraft seines Busens einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu fühlen, das Alles in sich und durch sich hervorbringt. Und nach Faust's Meinung ist jedem eingeboren, Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, Wenn über uns, im blauen Raum verloren Ihr schmetternd Lied die Lerche singt, Wenn über schroffen Fichtenhöhn Der Adler ausgebreitet schwebt Und über Flächen, über Seen Der Kranich nach der Heimath strebt. Also dreimal derselbe eigenthümliche Drang, sich in's All zu versenken; ist es eine originale Regung der Seele? Liest man die Frühlingsfeier vorher, so spürt man im Ganymed und in der Wertherstelle schon an der Wahl der Worte deutlichste Nachwirkung; und kennt man Giordano Bruno und Spi¬ noza, so findet man kaum noch etwas, was der Dichter sich selbst verdankt, als jene schöne Vermischung pantheistischer und christlicher Andacht zu so herzig dichterischen einschmeichelnden Sehnsuchtslauten. Wer führte aber Goethe zu jenem Gedichte Klopstock's, wer zu Spinoza, als Herder? In Beziehung auf Spinoza setzen Manche umgekehrt eine Ein¬ wirkung Goethe's auf Herder voraus, und nehmen dieselbe erst in den 80er Jahren an, z. B. Hettner in der Geschichte der deutschen Literatur im I8ten Jahrhundert (III, 2. S. 73) und Tochter in seinem Buche über Schiller's Verhältniß zur Wissenschaft (S. 92). Daß Goethe und Herder zur Zeit der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/63
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/63>, abgerufen am 05.02.2025.