Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.Wer hatte dem Dichter gelehrt, fremdem Ton zu lauschen, fremden Ton
Konnte dieses sinnige, träumerische, liebliche Wesen ein Kind des Hans Unter solchen Händen durfte auch der von den Kunstpoeten so verachtete Und so steht nun der Dichter überall zu den Formen, die er sich nach Auch die andern Weisen, die durch Herder bekannt wurden, und die Bequem aber mußte allerdings die Form durchaus sein; denn das dich¬ Wer hatte dem Dichter gelehrt, fremdem Ton zu lauschen, fremden Ton
Konnte dieses sinnige, träumerische, liebliche Wesen ein Kind des Hans Unter solchen Händen durfte auch der von den Kunstpoeten so verachtete Und so steht nun der Dichter überall zu den Formen, die er sich nach Auch die andern Weisen, die durch Herder bekannt wurden, und die Bequem aber mußte allerdings die Form durchaus sein; denn das dich¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0059" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192359"/> <p xml:id="ID_205"> Wer hatte dem Dichter gelehrt, fremdem Ton zu lauschen, fremden Ton<lb/> zu treffen? — Dies dankt der geniale Jüngling seinem Freunde Herder. Und<lb/> doch! ganz der alte Nürnberger Ton des sechszehnten Jahrhunderts ist es<lb/> nicht mehr; hinter den Knittelversen und alterthümlichen Worten liegt ein<lb/> Geist verborgen, den kein Hans Sachs und kein Herder geben konnte! Der<lb/> Dichter des 18. Jahrhunderts, mit seiner tieferen, reicheren und edler gebil¬<lb/> deten Seele hebt, sobald er diese verklungenen Formen wieder zum Leben<lb/> weckt, sie weit über ihre ursprüngliche Schlichtheit und Hölzernheit hinaus.<lb/> ^6 ist ähnlich, was wir hier hören, ähnlich naiv, volksthümlich und wahr,<lb/> und doch geistiger, inniger, von höherer Geburt. Könnte man's bei Hans<lb/> Sachs wohl lesen, was da steht von dem holden Mägdlein am Bach, wie<lb/> sie sitzt</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_7" type="poem"> <l> Mit abgesenktem Haupt und Aug' —<lb/> Hat Nosen in ihren Schooß gepflückt —<lb/> Und bindet ein Kränzlein sehr geschickt<lb/> Mit hellen Knospen und Blättern drein —<lb/> Für wen mag wohl das Kränzlein sein?<lb/> So sitzt sie auf sich selbst geneigt<lb/> In Hoffnungsfülle ihr Busen steigt,<lb/> Ihr Wesen ist so ahndevoll.<lb/> Weiß nicht, was sie sich wünschen soll,<lb/> Und unter vieler Grillen Lauf<lb/> Steigt wohl einmal ein Seufzer auf.</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_206"> Konnte dieses sinnige, träumerische, liebliche Wesen ein Kind des Hans<lb/> Sächsischen Geistes sein? Ist's nicht Gretchen? Ist's nicht Clärchen?</p><lb/> <p xml:id="ID_207"> Unter solchen Händen durfte auch der von den Kunstpoeten so verachtete<lb/> Vers mit seinen Hebungen der tiefsinnigen Fausttragödie zum Kleide dienen.</p><lb/> <p xml:id="ID_208"> Und so steht nun der Dichter überall zu den Formen, die er sich nach<lb/> Herder'scher Unterweisung aneignet. Bürger zieht das Vorgefundene eher<lb/> herab als hinauf; bei Goethe kommt das, was der aufgenommenen Form<lb/> und Weise gewissermaßen als Idee vorschwebt, ohne völlig realisirt zu sein,<lb/> zu Abschluß und Vollendung. Mit leiser, zarter Aenderung, sich selber un¬<lb/> bewußt verklärt und vertieft er das Alte; es scheint noch dasselbe; aber<lb/> „ausgestoßen hat es jeden Zeugen menschlicher Bedürftigkeit".</p><lb/> <p xml:id="ID_209"> Auch die andern Weisen, die durch Herder bekannt wurden, und die<lb/> mehr für lyrische Sachen sich eigneten, waren dem leichtlebigen, des Genius<lb/> vollen, jugendlichen Dichter so recht „bequem".</p><lb/> <p xml:id="ID_210" next="#ID_211"> Bequem aber mußte allerdings die Form durchaus sein; denn das dich¬<lb/> terische Leben quoll in dieser reichen Seele so mächtig, daß es vielfach vom<lb/> Singen gar nicht bis zum Aufschreiben kam — der Dichter sang und summte<lb/> eine Weise vor sich hin; er staunte, wenn's zu Ende war, und konnte nun</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0059]
Wer hatte dem Dichter gelehrt, fremdem Ton zu lauschen, fremden Ton
zu treffen? — Dies dankt der geniale Jüngling seinem Freunde Herder. Und
doch! ganz der alte Nürnberger Ton des sechszehnten Jahrhunderts ist es
nicht mehr; hinter den Knittelversen und alterthümlichen Worten liegt ein
Geist verborgen, den kein Hans Sachs und kein Herder geben konnte! Der
Dichter des 18. Jahrhunderts, mit seiner tieferen, reicheren und edler gebil¬
deten Seele hebt, sobald er diese verklungenen Formen wieder zum Leben
weckt, sie weit über ihre ursprüngliche Schlichtheit und Hölzernheit hinaus.
^6 ist ähnlich, was wir hier hören, ähnlich naiv, volksthümlich und wahr,
und doch geistiger, inniger, von höherer Geburt. Könnte man's bei Hans
Sachs wohl lesen, was da steht von dem holden Mägdlein am Bach, wie
sie sitzt
Mit abgesenktem Haupt und Aug' —
Hat Nosen in ihren Schooß gepflückt —
Und bindet ein Kränzlein sehr geschickt
Mit hellen Knospen und Blättern drein —
Für wen mag wohl das Kränzlein sein?
So sitzt sie auf sich selbst geneigt
In Hoffnungsfülle ihr Busen steigt,
Ihr Wesen ist so ahndevoll.
Weiß nicht, was sie sich wünschen soll,
Und unter vieler Grillen Lauf
Steigt wohl einmal ein Seufzer auf.
Konnte dieses sinnige, träumerische, liebliche Wesen ein Kind des Hans
Sächsischen Geistes sein? Ist's nicht Gretchen? Ist's nicht Clärchen?
Unter solchen Händen durfte auch der von den Kunstpoeten so verachtete
Vers mit seinen Hebungen der tiefsinnigen Fausttragödie zum Kleide dienen.
Und so steht nun der Dichter überall zu den Formen, die er sich nach
Herder'scher Unterweisung aneignet. Bürger zieht das Vorgefundene eher
herab als hinauf; bei Goethe kommt das, was der aufgenommenen Form
und Weise gewissermaßen als Idee vorschwebt, ohne völlig realisirt zu sein,
zu Abschluß und Vollendung. Mit leiser, zarter Aenderung, sich selber un¬
bewußt verklärt und vertieft er das Alte; es scheint noch dasselbe; aber
„ausgestoßen hat es jeden Zeugen menschlicher Bedürftigkeit".
Auch die andern Weisen, die durch Herder bekannt wurden, und die
mehr für lyrische Sachen sich eigneten, waren dem leichtlebigen, des Genius
vollen, jugendlichen Dichter so recht „bequem".
Bequem aber mußte allerdings die Form durchaus sein; denn das dich¬
terische Leben quoll in dieser reichen Seele so mächtig, daß es vielfach vom
Singen gar nicht bis zum Aufschreiben kam — der Dichter sang und summte
eine Weise vor sich hin; er staunte, wenn's zu Ende war, und konnte nun
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