Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.und Dorilis. Herder verlangte völlige Wahrheit. Goethe hatte bis jetzt be¬ Und jede metrische und jede grammatische Fessel verschwand. Nicht Das kam dem Dichter Alles so wundervoll bequem. Und Bequemlichkeit So hat denn Goethe den alten Meistersänger in seinen eigenen Versen Auch dieses Gedicht nämlich fällt der Conception nach in unsern Zeit¬
und Dorilis. Herder verlangte völlige Wahrheit. Goethe hatte bis jetzt be¬ Und jede metrische und jede grammatische Fessel verschwand. Nicht Das kam dem Dichter Alles so wundervoll bequem. Und Bequemlichkeit So hat denn Goethe den alten Meistersänger in seinen eigenen Versen Auch dieses Gedicht nämlich fällt der Conception nach in unsern Zeit¬
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192358"/> <p xml:id="ID_200" prev="#ID_199"> und Dorilis. Herder verlangte völlige Wahrheit. Goethe hatte bis jetzt be¬<lb/> wußtlos rieben einander gedichtet Natürliches und Gemachtes: hier hatte er<lb/> lebendig Empfundenes hingesungen, daneben vielfach noch prosaische Gedanken<lb/> in poetisch-rhetorische Formen kunstmäßig eingekleidet. Herder belehrte ihn,<lb/> daß er in denjenigen Gedichten, bei welchen ihm übrigens selbst auch am<lb/> wohlsten gewesen, gerade auf der richtigen Fährte gegangen sei: wo er nichts<lb/> erklügelt und zurecht gemacht habe, sondern wo Alles wie von selbst gewor¬<lb/> den sei, wo die gehobene Stimmung Form und Ablauf der Rede gleichsam<lb/> im natürlichen Wachsthum von innen hinaus gestaltet habe.</p><lb/> <p xml:id="ID_201"> Und jede metrische und jede grammatische Fessel verschwand. Nicht<lb/> Meißener Dialekt! Idiotismen! Nicht Alexandriner! nicht die Opitzische Ac-<lb/> centregel! sondern die freien Rhythmen der Klopstock'schen Hymnen, oder die<lb/> einfachen sangesmäßigen Formen des Volksliedes und der Romanzen oder der<lb/> Hans Sächsischen Knittelverse.</p><lb/> <p xml:id="ID_202"> Das kam dem Dichter Alles so wundervoll bequem. Und Bequemlichkeit<lb/> sagte seiner ruhig gelassenen Natur außerordentlich zu. Zu Göttingen be¬<lb/> schäftigten sich die von Herder angeregten B ürger und Miller mit den deut¬<lb/> schen Minneliedern; Goethe, dem Straßburger Kreise überhaupt, „lagen sie<lb/> zu weit ab"; die Sprache hätte man erst studiren müssen, und „das war<lb/> nicht unsere Sache; wir wollten leben und nicht lernen." „Hans Sachs, der<lb/> meisterliche Dichter, lag uns am nächsten; wir benutzten den leichten Rhyth¬<lb/> mus, den sich willig anbietenden Reim. Es schien diese Art so bequem zur<lb/> Poesie des Tages und deren bedurften wir jede Stunde."</p><lb/> <p xml:id="ID_203"> So hat denn Goethe den alten Meistersänger in seinen eigenen Versen<lb/> auf's herrlichste besungen: Hans Sachsens poetische Sendung.</p><lb/> <p xml:id="ID_204"> Auch dieses Gedicht nämlich fällt der Conception nach in unsern Zeit¬<lb/> abschnitt, wenn es auch erst in den ersten Monaten des Weimarer Lebens<lb/> vollendet ward. Wie stellt der gleichgestimmte Dichter den lange verkannten<lb/> und mißachteten Meister anschaulich und warm gezeichnet vor uns hin! Wie<lb/> bringt er seinen treuherzig-einfachen Ton zu Ehren! Ist es nicht, als ob wir<lb/> den Alten selbst hörten:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_6" type="poem"> <l> Sollst halten über Ehr' und Recht,<lb/> In allem Ding seyn schlicht und schlecht,<lb/> Frummkeit und Tugendlieder preisen,<lb/> Das Bd'ß mit seinem Namen heißen.<lb/> Nichts verlindert und nichts verwitzelt ;<lb/> Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt,<lb/> Sondern die Welt soll vor dir stehn,<lb/> Wie Albrecht Dürer sie hat gesehn. —</l> </lg> </quote><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0058]
und Dorilis. Herder verlangte völlige Wahrheit. Goethe hatte bis jetzt be¬
wußtlos rieben einander gedichtet Natürliches und Gemachtes: hier hatte er
lebendig Empfundenes hingesungen, daneben vielfach noch prosaische Gedanken
in poetisch-rhetorische Formen kunstmäßig eingekleidet. Herder belehrte ihn,
daß er in denjenigen Gedichten, bei welchen ihm übrigens selbst auch am
wohlsten gewesen, gerade auf der richtigen Fährte gegangen sei: wo er nichts
erklügelt und zurecht gemacht habe, sondern wo Alles wie von selbst gewor¬
den sei, wo die gehobene Stimmung Form und Ablauf der Rede gleichsam
im natürlichen Wachsthum von innen hinaus gestaltet habe.
Und jede metrische und jede grammatische Fessel verschwand. Nicht
Meißener Dialekt! Idiotismen! Nicht Alexandriner! nicht die Opitzische Ac-
centregel! sondern die freien Rhythmen der Klopstock'schen Hymnen, oder die
einfachen sangesmäßigen Formen des Volksliedes und der Romanzen oder der
Hans Sächsischen Knittelverse.
Das kam dem Dichter Alles so wundervoll bequem. Und Bequemlichkeit
sagte seiner ruhig gelassenen Natur außerordentlich zu. Zu Göttingen be¬
schäftigten sich die von Herder angeregten B ürger und Miller mit den deut¬
schen Minneliedern; Goethe, dem Straßburger Kreise überhaupt, „lagen sie
zu weit ab"; die Sprache hätte man erst studiren müssen, und „das war
nicht unsere Sache; wir wollten leben und nicht lernen." „Hans Sachs, der
meisterliche Dichter, lag uns am nächsten; wir benutzten den leichten Rhyth¬
mus, den sich willig anbietenden Reim. Es schien diese Art so bequem zur
Poesie des Tages und deren bedurften wir jede Stunde."
So hat denn Goethe den alten Meistersänger in seinen eigenen Versen
auf's herrlichste besungen: Hans Sachsens poetische Sendung.
Auch dieses Gedicht nämlich fällt der Conception nach in unsern Zeit¬
abschnitt, wenn es auch erst in den ersten Monaten des Weimarer Lebens
vollendet ward. Wie stellt der gleichgestimmte Dichter den lange verkannten
und mißachteten Meister anschaulich und warm gezeichnet vor uns hin! Wie
bringt er seinen treuherzig-einfachen Ton zu Ehren! Ist es nicht, als ob wir
den Alten selbst hörten:
Sollst halten über Ehr' und Recht,
In allem Ding seyn schlicht und schlecht,
Frummkeit und Tugendlieder preisen,
Das Bd'ß mit seinem Namen heißen.
Nichts verlindert und nichts verwitzelt ;
Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt,
Sondern die Welt soll vor dir stehn,
Wie Albrecht Dürer sie hat gesehn. —
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