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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Kerder's Linwirliung auf die deutsche FyriK von
1770--1775.
Von E. Lacis. (Fortsetzung.)

Die Naturfrische war zunächst das Haupterforderniß; und wie war sie
ungetrübt und unermattet in diesem Menschen.') Wie besaß er mitten in einem
gelehrten und ceremoniellen Jahrhundert jene ganz einzige Gabe, sich harm¬
los und naiv, unmittelbar und rein zu geben, wie es der Moment gerade
brachte. Frei und ohne alles Bedenken spricht und singt er das Empfundene
und Angeschaute so hin, ohne daß es etwas Besonderes sein und vorstellen
soll; es löst sich gleichsam mit Naturnothwendigkeit von dem bewegten Innern
los. Die deutsche Quisquiliengelehrtheit belastet diesen naiven Geist nicht;
fröhlich und heiter ist er, ein Kind des Glückes, mehr als unter seinen
Büchern in Natur und Leben, in harmlosen, freiem Verkehr mit Welt und
Menschen herangewachsen. Und die großen Augen haben die Dinge da draußen
mit reinem Blick betrachtet, fest und sicher gefaßt und der Seele zu treuem
Besitz eingesogen. Fast nirgends hat sich der Dichter bei bloßem Wortkram
zu begnügen gebraucht, womit man uns Alle oft genug in der Jugend ab¬
speist; fast überall ward ihm zu Theil, sofort der Sache, der sinnlichen An¬
schauung sich zu bemächtigen.

Und nun dazu dieses Göttergeschenk, allem Wirklichen eine poetische Ge¬
stalt zu geben; die Fähigkeit, über Alles den Duft seines tiefen, herzigen
Gemüths zu hauchen, in immer neuen Wendungen und Formen, wie sie sich
jedesmal als die einfachsten, sprechendsten und erschöpfendsten aufdrängten,
das reiche, innere Vorstellungs-, Gefühls- und Gedankenleben sichtbar, hör¬
bar zu machen, zum Mitgenuß für Andere aus sich heraus zu stellen.

Was konnte Herder diesem höchst begnadigten Naturkinde leisten?

Hier fand er Alles, was sein kritischer Takt ihm als das Einzige, was
noth thäte, im Geist gezeigt hatte. Er brauchte nur ganz zu befreien, die
letzten Schranken niederzureißen, jede störende Rücksicht, jedes fremdartige Ele¬
ment rein auszuscheiden, die bequemsten Formen der Aeußerung dem treiben¬
den und quellenden Genius zuzuweisen, ihm würdige Anregungen zu geben, so
war Deutschlands größter Dichter geboren- - Alles das hat er ihm wirklich
geleistet.

In Leipzig ging Goethe noch am Gängelbande der französirenden Alexan¬
drinerpoesie. Auch er spielte mit poetischen Masken, mit Dämon, Thyrfis



D. Red. ") Goethe.
Grenzboten II. 1L7l.77
Kerder's Linwirliung auf die deutsche FyriK von
1770—1775.
Von E. Lacis. (Fortsetzung.)

Die Naturfrische war zunächst das Haupterforderniß; und wie war sie
ungetrübt und unermattet in diesem Menschen.') Wie besaß er mitten in einem
gelehrten und ceremoniellen Jahrhundert jene ganz einzige Gabe, sich harm¬
los und naiv, unmittelbar und rein zu geben, wie es der Moment gerade
brachte. Frei und ohne alles Bedenken spricht und singt er das Empfundene
und Angeschaute so hin, ohne daß es etwas Besonderes sein und vorstellen
soll; es löst sich gleichsam mit Naturnothwendigkeit von dem bewegten Innern
los. Die deutsche Quisquiliengelehrtheit belastet diesen naiven Geist nicht;
fröhlich und heiter ist er, ein Kind des Glückes, mehr als unter seinen
Büchern in Natur und Leben, in harmlosen, freiem Verkehr mit Welt und
Menschen herangewachsen. Und die großen Augen haben die Dinge da draußen
mit reinem Blick betrachtet, fest und sicher gefaßt und der Seele zu treuem
Besitz eingesogen. Fast nirgends hat sich der Dichter bei bloßem Wortkram
zu begnügen gebraucht, womit man uns Alle oft genug in der Jugend ab¬
speist; fast überall ward ihm zu Theil, sofort der Sache, der sinnlichen An¬
schauung sich zu bemächtigen.

Und nun dazu dieses Göttergeschenk, allem Wirklichen eine poetische Ge¬
stalt zu geben; die Fähigkeit, über Alles den Duft seines tiefen, herzigen
Gemüths zu hauchen, in immer neuen Wendungen und Formen, wie sie sich
jedesmal als die einfachsten, sprechendsten und erschöpfendsten aufdrängten,
das reiche, innere Vorstellungs-, Gefühls- und Gedankenleben sichtbar, hör¬
bar zu machen, zum Mitgenuß für Andere aus sich heraus zu stellen.

Was konnte Herder diesem höchst begnadigten Naturkinde leisten?

Hier fand er Alles, was sein kritischer Takt ihm als das Einzige, was
noth thäte, im Geist gezeigt hatte. Er brauchte nur ganz zu befreien, die
letzten Schranken niederzureißen, jede störende Rücksicht, jedes fremdartige Ele¬
ment rein auszuscheiden, die bequemsten Formen der Aeußerung dem treiben¬
den und quellenden Genius zuzuweisen, ihm würdige Anregungen zu geben, so
war Deutschlands größter Dichter geboren- - Alles das hat er ihm wirklich
geleistet.

In Leipzig ging Goethe noch am Gängelbande der französirenden Alexan¬
drinerpoesie. Auch er spielte mit poetischen Masken, mit Dämon, Thyrfis



D. Red. ") Goethe.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/57>, abgerufen am 05.02.2025.