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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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seine großartigen Erfolge in Centralasien ungenutzt lassen und seine innere
Entwickelung versäumen, die der Pflege so sehr bedarf.

Man darf mit Festigkeit die Ueberzeugung aussprechen, daß keine wirklich
staatsmännische Persönlichkeit, keine Persönlichkeit, die aus die Politik von
wahrhaftem Einfluß ist, in Nußland solche tolle Gedanken hegt. Es sind,
wie überall, die Dilettanten der Politik, in deren Gehirn solche Blasen auf¬
steigen, namentlich diejenigen Dilettanten, welche sich von den Wellen des seit
dem letzten polnischen Aufstand noch immer leidenschaftlich aufgeregten Natio¬
nalgefühls tragen lassen. Daß bei einem Volk, wie das russische, das Natio¬
nalgefühl leicht auf Irrwege geräth, darf nicht Wunder nehmen. Aber es ist
eine beruhigende Thatsache, daß die leitenden Regionen Rußlands durch solche
Phantome weder verführt noch fortgerissen werden.

Wir haben die Wichtigkeit der deutschen Freundschaft für Nußland ange¬
deutet und dadurch die Ueberzeugung in uns befestigt, daß diese Freundschaft
von den entscheidenden Kreisen Rußlands mit allem Ernst geschätzt und ge¬
pflegt wird. Die Wahrheit gebietet aber hinzuzufügen, daß nicht minder die
Freundschaft Rußlands für Deutschland vom höchsten Werth ist.

Das ist lange Jahre bei uns verkannt worden, hauptsächlich in Folge
der Stellung, welche der Kaiser Nikolaus zu dem westeuropäischen Liberalis¬
mus eingenommen hatte. Aber schließlich bleibt die handgreifliche Lehre
der Geschichte, daß Napoleons I. sarkastischer Ehrgeiz, der über ungeheure
Machtmittel verfügte, sich nur an der russisch-preußischen Waffenbrüderschaft
gebrochen hat. Und was Deutschland und mit ihm Europa in der letzten ge¬
waltigen Kriegsperiode dem Kaiser Alexander II. zu danken hat, das bezeugte
Kaiser Wilhelm mit dem Worte: "Eurer Majestät verdanken wir, daß der
Kampf nicht die äußersten Dimensionen angenommen hat. Gott segne Eure
Majestät dafür."

Schon der bloße Umstand, daß Rußlands Freundschaft für Deutschland
ausgesprochen ist, wird möglicherweise die tollen Sprünge französischer Raserei
vermindern und der Welt den einen oder den anderen Anblick mehr von
Grauen und Blutvergießen ersparen.

Es gibt freilich Leute, die sofort die Ostseeprovinzen im Munde sühren,
wenn von russischer Freundschaft die Rede ist. Wir aber können nur wün¬
schen, daß das deutsche Volk seinem leitenden Staatsmann eine Eigenschaft
ablerne, die ihm kürzlich Jules Favre nachgerühmt hat. Dieser sagte: Fürst
Bismarck weise jede Gedankenreihe ab, die nicht zu einem nützlichen Ende
führe. Zu welchem Ende kann denn wohl die sentimentale Schönthuerei mit
den Ostseeprovinzen führen? Sollen wir der russischen Regierung vorschreiben,
wie sie dort regieren muß? So thöricht ist wohl Niemand, im Ernste zu
verlangen, daß die russische innere Politik von Deutschland geleitet werde.


seine großartigen Erfolge in Centralasien ungenutzt lassen und seine innere
Entwickelung versäumen, die der Pflege so sehr bedarf.

Man darf mit Festigkeit die Ueberzeugung aussprechen, daß keine wirklich
staatsmännische Persönlichkeit, keine Persönlichkeit, die aus die Politik von
wahrhaftem Einfluß ist, in Nußland solche tolle Gedanken hegt. Es sind,
wie überall, die Dilettanten der Politik, in deren Gehirn solche Blasen auf¬
steigen, namentlich diejenigen Dilettanten, welche sich von den Wellen des seit
dem letzten polnischen Aufstand noch immer leidenschaftlich aufgeregten Natio¬
nalgefühls tragen lassen. Daß bei einem Volk, wie das russische, das Natio¬
nalgefühl leicht auf Irrwege geräth, darf nicht Wunder nehmen. Aber es ist
eine beruhigende Thatsache, daß die leitenden Regionen Rußlands durch solche
Phantome weder verführt noch fortgerissen werden.

Wir haben die Wichtigkeit der deutschen Freundschaft für Nußland ange¬
deutet und dadurch die Ueberzeugung in uns befestigt, daß diese Freundschaft
von den entscheidenden Kreisen Rußlands mit allem Ernst geschätzt und ge¬
pflegt wird. Die Wahrheit gebietet aber hinzuzufügen, daß nicht minder die
Freundschaft Rußlands für Deutschland vom höchsten Werth ist.

Das ist lange Jahre bei uns verkannt worden, hauptsächlich in Folge
der Stellung, welche der Kaiser Nikolaus zu dem westeuropäischen Liberalis¬
mus eingenommen hatte. Aber schließlich bleibt die handgreifliche Lehre
der Geschichte, daß Napoleons I. sarkastischer Ehrgeiz, der über ungeheure
Machtmittel verfügte, sich nur an der russisch-preußischen Waffenbrüderschaft
gebrochen hat. Und was Deutschland und mit ihm Europa in der letzten ge¬
waltigen Kriegsperiode dem Kaiser Alexander II. zu danken hat, das bezeugte
Kaiser Wilhelm mit dem Worte: „Eurer Majestät verdanken wir, daß der
Kampf nicht die äußersten Dimensionen angenommen hat. Gott segne Eure
Majestät dafür."

Schon der bloße Umstand, daß Rußlands Freundschaft für Deutschland
ausgesprochen ist, wird möglicherweise die tollen Sprünge französischer Raserei
vermindern und der Welt den einen oder den anderen Anblick mehr von
Grauen und Blutvergießen ersparen.

Es gibt freilich Leute, die sofort die Ostseeprovinzen im Munde sühren,
wenn von russischer Freundschaft die Rede ist. Wir aber können nur wün¬
schen, daß das deutsche Volk seinem leitenden Staatsmann eine Eigenschaft
ablerne, die ihm kürzlich Jules Favre nachgerühmt hat. Dieser sagte: Fürst
Bismarck weise jede Gedankenreihe ab, die nicht zu einem nützlichen Ende
führe. Zu welchem Ende kann denn wohl die sentimentale Schönthuerei mit
den Ostseeprovinzen führen? Sollen wir der russischen Regierung vorschreiben,
wie sie dort regieren muß? So thöricht ist wohl Niemand, im Ernste zu
verlangen, daß die russische innere Politik von Deutschland geleitet werde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/488>, abgerufen am 05.02.2025.