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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Aeußern, Herr de Remusat. So lange hatte Herr Thiers gebraucht zu dem
Entschluß, ob er Frankreich bei dem Fest in Turin durch einen Vertreter der
allgemeinen Staatsangelegenheiten oder bloß durch den technischen Minister,
den besagten Herrn Lefranc vertreten lassen solle. Er hatte in der elften
Stunde das Erstere gewählt. Die Scene von Bardonnecchia wiederholte sich
zu Turin in Gestalt einer brillanten Variation. Die erste Rede hielt der
Bürgermeister von Turin als Gastgeber. Jetzt war die Reihe an Herrn
de Remusat. Der Minister, dem man feine literarische Bildung nachrühmt,
fand doch als Mittelpunkt seines Redeschmucks nichts Besseres, als das hin¬
geworfene Wort Victor Emanuels, wie Herr Lefranc es vernommen. Die
Schwestern von Latium mußten wieder auf die Bühne treten. Aber man
tritt doch nicht so bloß herein, es bedarf eines Motivs, einer Antithese. Bei
der Antithese, die Herr de Remusat seinen Schwestern von Latium voraus¬
schickte, entwickelte er eine wunderbare Bescheidenheit. Er bedauerte, nicht in
der harmonischen Sprache zu den Gästen reden zu können, deren Laute so
eben erklungen: "Wenn ich aber eine minder süße und minder wohlklingende
Sprache rede, so bedenken Sie, daß dieselbe wie die Ihrige aus dem mann¬
haften Idiom Ihrer Ahnen hervorgegangen ist, was beweist, daß wir, Ita¬
liener und Franzosen, zwei lateinische Racen sind und berufen, einander zu
verstehen." (Allgemeiner Beifall.) Herr de Remusat, als Mann von gelehr¬
ter Bildung, wird sich erinnern, wie weit es mit dem lateinischen Charakter
der französischen Nation her ist. Es gab eine Zeit, wo man in Frankreich
vor Allem fränkisch sein wollte und sich brüstete mit Klodwig und Carl dem
Großen. Dann wurde Mode, für den Erben der römischen Civilisation
zu gelten. Doch heißt es hier: setz' dir Perücken auf von Millionen Locken,
du bleibst doch immer was du bist, die alte keltische Race, die einst der
römische Cäsar zu seinen Füßen gesehen, die in eigenthümlicher Selbstbefangen-
heit jederzeit am Schwächsten darin gewesen ist, fremdes Wesen zu verstehen
und fremdes Verdienst zu erkennen. Eine Lehre wie die von 1870 freilich
macht auch französische Redner gelegentlich bescheiden, wie wir sehen. Doch
ist solche Bescheidenheit nie von langer Dauer gewesen. Herr de Remusat
hätte, wie er in seinem Toast erzählte, gern und immer zu den gehörten
Reden "si, si" gesagt. Wie schön wäre es, wenn er dieses si" seinem
Volke beibrachte, wo es sich um die Rechte der Nachbaren handelt!

Auch Herr Remusat huldigte, nachdem er sich an der lateinischen Schwe¬
sternschaft gelabt, der Industrie. Er meinte, "das Verdienst der neuen Straße
läge darin, daß sie dem Kriege nicht dienen könne, der sie augenblicklich schließen
würde." Wie schwer mag dem französischen Minister geworden sein, bei
diesen Worten einen Stoßseufzer zu unterdrücken! Denn wäre Italien noch
so schwach, wie ehedem, so wäre mindestens Sardinien Frankreichs Vasall


Aeußern, Herr de Remusat. So lange hatte Herr Thiers gebraucht zu dem
Entschluß, ob er Frankreich bei dem Fest in Turin durch einen Vertreter der
allgemeinen Staatsangelegenheiten oder bloß durch den technischen Minister,
den besagten Herrn Lefranc vertreten lassen solle. Er hatte in der elften
Stunde das Erstere gewählt. Die Scene von Bardonnecchia wiederholte sich
zu Turin in Gestalt einer brillanten Variation. Die erste Rede hielt der
Bürgermeister von Turin als Gastgeber. Jetzt war die Reihe an Herrn
de Remusat. Der Minister, dem man feine literarische Bildung nachrühmt,
fand doch als Mittelpunkt seines Redeschmucks nichts Besseres, als das hin¬
geworfene Wort Victor Emanuels, wie Herr Lefranc es vernommen. Die
Schwestern von Latium mußten wieder auf die Bühne treten. Aber man
tritt doch nicht so bloß herein, es bedarf eines Motivs, einer Antithese. Bei
der Antithese, die Herr de Remusat seinen Schwestern von Latium voraus¬
schickte, entwickelte er eine wunderbare Bescheidenheit. Er bedauerte, nicht in
der harmonischen Sprache zu den Gästen reden zu können, deren Laute so
eben erklungen: „Wenn ich aber eine minder süße und minder wohlklingende
Sprache rede, so bedenken Sie, daß dieselbe wie die Ihrige aus dem mann¬
haften Idiom Ihrer Ahnen hervorgegangen ist, was beweist, daß wir, Ita¬
liener und Franzosen, zwei lateinische Racen sind und berufen, einander zu
verstehen." (Allgemeiner Beifall.) Herr de Remusat, als Mann von gelehr¬
ter Bildung, wird sich erinnern, wie weit es mit dem lateinischen Charakter
der französischen Nation her ist. Es gab eine Zeit, wo man in Frankreich
vor Allem fränkisch sein wollte und sich brüstete mit Klodwig und Carl dem
Großen. Dann wurde Mode, für den Erben der römischen Civilisation
zu gelten. Doch heißt es hier: setz' dir Perücken auf von Millionen Locken,
du bleibst doch immer was du bist, die alte keltische Race, die einst der
römische Cäsar zu seinen Füßen gesehen, die in eigenthümlicher Selbstbefangen-
heit jederzeit am Schwächsten darin gewesen ist, fremdes Wesen zu verstehen
und fremdes Verdienst zu erkennen. Eine Lehre wie die von 1870 freilich
macht auch französische Redner gelegentlich bescheiden, wie wir sehen. Doch
ist solche Bescheidenheit nie von langer Dauer gewesen. Herr de Remusat
hätte, wie er in seinem Toast erzählte, gern und immer zu den gehörten
Reden „si, si" gesagt. Wie schön wäre es, wenn er dieses si« seinem
Volke beibrachte, wo es sich um die Rechte der Nachbaren handelt!

Auch Herr Remusat huldigte, nachdem er sich an der lateinischen Schwe¬
sternschaft gelabt, der Industrie. Er meinte, „das Verdienst der neuen Straße
läge darin, daß sie dem Kriege nicht dienen könne, der sie augenblicklich schließen
würde." Wie schwer mag dem französischen Minister geworden sein, bei
diesen Worten einen Stoßseufzer zu unterdrücken! Denn wäre Italien noch
so schwach, wie ehedem, so wäre mindestens Sardinien Frankreichs Vasall


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[0035] Aeußern, Herr de Remusat. So lange hatte Herr Thiers gebraucht zu dem Entschluß, ob er Frankreich bei dem Fest in Turin durch einen Vertreter der allgemeinen Staatsangelegenheiten oder bloß durch den technischen Minister, den besagten Herrn Lefranc vertreten lassen solle. Er hatte in der elften Stunde das Erstere gewählt. Die Scene von Bardonnecchia wiederholte sich zu Turin in Gestalt einer brillanten Variation. Die erste Rede hielt der Bürgermeister von Turin als Gastgeber. Jetzt war die Reihe an Herrn de Remusat. Der Minister, dem man feine literarische Bildung nachrühmt, fand doch als Mittelpunkt seines Redeschmucks nichts Besseres, als das hin¬ geworfene Wort Victor Emanuels, wie Herr Lefranc es vernommen. Die Schwestern von Latium mußten wieder auf die Bühne treten. Aber man tritt doch nicht so bloß herein, es bedarf eines Motivs, einer Antithese. Bei der Antithese, die Herr de Remusat seinen Schwestern von Latium voraus¬ schickte, entwickelte er eine wunderbare Bescheidenheit. Er bedauerte, nicht in der harmonischen Sprache zu den Gästen reden zu können, deren Laute so eben erklungen: „Wenn ich aber eine minder süße und minder wohlklingende Sprache rede, so bedenken Sie, daß dieselbe wie die Ihrige aus dem mann¬ haften Idiom Ihrer Ahnen hervorgegangen ist, was beweist, daß wir, Ita¬ liener und Franzosen, zwei lateinische Racen sind und berufen, einander zu verstehen." (Allgemeiner Beifall.) Herr de Remusat, als Mann von gelehr¬ ter Bildung, wird sich erinnern, wie weit es mit dem lateinischen Charakter der französischen Nation her ist. Es gab eine Zeit, wo man in Frankreich vor Allem fränkisch sein wollte und sich brüstete mit Klodwig und Carl dem Großen. Dann wurde Mode, für den Erben der römischen Civilisation zu gelten. Doch heißt es hier: setz' dir Perücken auf von Millionen Locken, du bleibst doch immer was du bist, die alte keltische Race, die einst der römische Cäsar zu seinen Füßen gesehen, die in eigenthümlicher Selbstbefangen- heit jederzeit am Schwächsten darin gewesen ist, fremdes Wesen zu verstehen und fremdes Verdienst zu erkennen. Eine Lehre wie die von 1870 freilich macht auch französische Redner gelegentlich bescheiden, wie wir sehen. Doch ist solche Bescheidenheit nie von langer Dauer gewesen. Herr de Remusat hätte, wie er in seinem Toast erzählte, gern und immer zu den gehörten Reden „si, si" gesagt. Wie schön wäre es, wenn er dieses si« seinem Volke beibrachte, wo es sich um die Rechte der Nachbaren handelt! Auch Herr Remusat huldigte, nachdem er sich an der lateinischen Schwe¬ sternschaft gelabt, der Industrie. Er meinte, „das Verdienst der neuen Straße läge darin, daß sie dem Kriege nicht dienen könne, der sie augenblicklich schließen würde." Wie schwer mag dem französischen Minister geworden sein, bei diesen Worten einen Stoßseufzer zu unterdrücken! Denn wäre Italien noch so schwach, wie ehedem, so wäre mindestens Sardinien Frankreichs Vasall

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/35>, abgerufen am 05.02.2025.