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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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und die Mont-Cenis-Baehr eine vortreffliche Militärstraße für Frankreich,
Heute ist Italien selbstständig und stark genug, um kein fremdes Heer die
Alpenbahn passiren zu lassen, wenn es dasselbe nicht für eigene Zwecke ge¬
rufen. So war die Rede des Vertreters von Frankreich ein Gemisch aus
bitterer Resignation und schwach motivirten Liebeslockungen.

Die Erwiederung des Vertreters von Italien, als welcher Herr Visconti
Venosta das Wort nahm, legte ein Zeugniß echt politischen Tantes ab. Der
Minister gab seine Befriedigung kund, "durch das Werk des Alpendurchstichs,
welches der ganzen Menschheit von Nutzen sein wird, Italiens Beziehungen
zu Frankreich wachsen zu sehen." Also, erst der allgemeine menschheitliche
Nutzen, hinterher das Wachsthum der Beziehungen zu Frankreich. Herr Ve¬
nosta betonte diese Stellung in seiner kurzen Rede zweimal. Indem er auf
die Gesundheit des Präsidenten der französischen Republik und auf die Freund¬
schaft der beiden Länder trank, fügte er hinzu: und auf das gute Einver¬
nehmen der Nationen, deren Einklang eine Bürgschaft des Fortschritts und
des allgemeinen Gedeihens ist. Es könnten die italienische und die franzö¬
sische Nation, es können aber auch alle Nationen gemeint sein, von deren
Einklang das allgemeine Gedeihen abhängt.

Von besonderen Zärtlichkeiten für ihren beweglichen Nachbar haben die
italienischen Staatsmänner bei diesen Festen sich auffallend fern gehalten. Es
scheint, sie wissen nur zu gut, was jener Nachbar ihrem Lande gönnt. Wenn
alle Welt von der Politik an die Industrie als die eigentliche Königin dieser
Feste sich zu wenden eilte, so war darin mehr Verlegenheit als Aufrichtigkeit.
Die gegenwärtige Regierung Frankreichs beschäftigt sich mit Beseitigung der
freisinnigen Handelsverträge und nicht zuletzt des Vertrages mit Italien. Was
hilft es, wie Herr de Remusat zu declamiren: "Die Schranke der Alpen ist ge¬
fallen"; wenn hinter den Alpen sich die Schranke der Zölle um so dichter
aufrichtet! Auch dies entging dem italienischen Staatsmann nicht und war
zum Theil der Grund, weßhalb er den Nutzen des Alpendurchstichs für die
Menschheit voranstellte. Denn der Triumph bleibt der Menschheit, auch wenn
die Nächstbetheiligten sich den Segen eines großen Werkes durch verworrene
Leidenschaft beeinträchtigen.

So standen sich Frankreich und Italien gegenüber: Dort sauersüße Schmei¬
15-
chelei, hier tactvolle Bezeichnung der Sachen, wie sie stehen.




und die Mont-Cenis-Baehr eine vortreffliche Militärstraße für Frankreich,
Heute ist Italien selbstständig und stark genug, um kein fremdes Heer die
Alpenbahn passiren zu lassen, wenn es dasselbe nicht für eigene Zwecke ge¬
rufen. So war die Rede des Vertreters von Frankreich ein Gemisch aus
bitterer Resignation und schwach motivirten Liebeslockungen.

Die Erwiederung des Vertreters von Italien, als welcher Herr Visconti
Venosta das Wort nahm, legte ein Zeugniß echt politischen Tantes ab. Der
Minister gab seine Befriedigung kund, „durch das Werk des Alpendurchstichs,
welches der ganzen Menschheit von Nutzen sein wird, Italiens Beziehungen
zu Frankreich wachsen zu sehen." Also, erst der allgemeine menschheitliche
Nutzen, hinterher das Wachsthum der Beziehungen zu Frankreich. Herr Ve¬
nosta betonte diese Stellung in seiner kurzen Rede zweimal. Indem er auf
die Gesundheit des Präsidenten der französischen Republik und auf die Freund¬
schaft der beiden Länder trank, fügte er hinzu: und auf das gute Einver¬
nehmen der Nationen, deren Einklang eine Bürgschaft des Fortschritts und
des allgemeinen Gedeihens ist. Es könnten die italienische und die franzö¬
sische Nation, es können aber auch alle Nationen gemeint sein, von deren
Einklang das allgemeine Gedeihen abhängt.

Von besonderen Zärtlichkeiten für ihren beweglichen Nachbar haben die
italienischen Staatsmänner bei diesen Festen sich auffallend fern gehalten. Es
scheint, sie wissen nur zu gut, was jener Nachbar ihrem Lande gönnt. Wenn
alle Welt von der Politik an die Industrie als die eigentliche Königin dieser
Feste sich zu wenden eilte, so war darin mehr Verlegenheit als Aufrichtigkeit.
Die gegenwärtige Regierung Frankreichs beschäftigt sich mit Beseitigung der
freisinnigen Handelsverträge und nicht zuletzt des Vertrages mit Italien. Was
hilft es, wie Herr de Remusat zu declamiren: „Die Schranke der Alpen ist ge¬
fallen"; wenn hinter den Alpen sich die Schranke der Zölle um so dichter
aufrichtet! Auch dies entging dem italienischen Staatsmann nicht und war
zum Theil der Grund, weßhalb er den Nutzen des Alpendurchstichs für die
Menschheit voranstellte. Denn der Triumph bleibt der Menschheit, auch wenn
die Nächstbetheiligten sich den Segen eines großen Werkes durch verworrene
Leidenschaft beeinträchtigen.

So standen sich Frankreich und Italien gegenüber: Dort sauersüße Schmei¬
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chelei, hier tactvolle Bezeichnung der Sachen, wie sie stehen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/36>, abgerufen am 05.02.2025.