Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.grimmige Enttäuschung folgte. Die glorreichen Errungenschaften des Jahres Und wie durchschlagend sind die Gesichtspunkte der Gneist'schen Studien Grenzboten II. 1871. 113
grimmige Enttäuschung folgte. Die glorreichen Errungenschaften des Jahres Und wie durchschlagend sind die Gesichtspunkte der Gneist'schen Studien Grenzboten II. 1871. 113
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grimmige Enttäuschung folgte. Die glorreichen Errungenschaften des Jahres
1848 waren nicht im Stande sich zu behaupten. Einen gewaltigen Stoß er¬
litt durch die realen Verhältnisse die liberale Doctrin. Ein Theil unserer
Freunde verzweifelte an der politischen Zukunft unseres Volkes; ein Theil
gab sich extremen, den Boden des realen Lebens mehr und mehr verlassenden
Theorien hin; ein anderer Theil unterzog das bisher für unfehlbar gehaltene
institutionelle Programm einer Revision und glaubte durch historische Stu¬
dien den Weg zu politischer Einsicht wieder aufsuchen zu sollen. Und es ist
ein Mann vor allen anderen, der auf einsamem Pfad durch die schwierige
und fast ungangbare Wildniß antiquarischer, historischer, staatsrechtlicher Stu¬
dien sich hindurchgearbeitet hat und darauf Sorge trägt, daß auf bequemer
und breiter Straße durch den gelichteten Wald wir anderen alle zu derselben
Fernsicht ihm nachwandeln können. In Rudolf Gneist hat sich der Ge¬
nius der historischen Schule erneuert: ihm verdankt unser politisches Leben
eine neue Gestalt. Allen Mißverständnissen vorzubeugen, erklären wir aus¬
drücklich, daß wir nicht von dem Abgeordneten Gneist reden: uns scheint
vielmehr ein Phänomen der historischen Schule der früheren Generation sich
wiederholt zu haben; wenn die Meister der historischen Schule in ihrem prak¬
tischen Verhalten zur Politik ihrer Gegenwart von ihren eigenen Principien
ganz bedeutend nach rechts hin abgewichen sind, so scheint uns der Erneuerer
der historischen Schule, Rudolf Gneist, als Abgeordneter in den Jahren
1860—1866 wiederholt nach links hin fortgerissen und in Gegensatz zu sei¬
ner Lehre gebracht zu sein. Davon wollen wir hier nicht reden. In der
beschichte der politischen Theorien — (und zuletzt sind es doch die Theorien,
welche auch die politische Praxis bestimmen, leiten und schaffen) — bezeichnet
Jahr 18S8 eine Epoche. Die einfache Ausweisung des Thatbestandes der
Verfassung Englands genügte, um das falsche Bild des Parlamentarismus,
wie es in deutschen Köpfen spukte, zu vertilgen: indem Gneist zunächst in
England die Grundlagen des öffentlichen Lebens zergliederte, legte er die An¬
wendung dieser Erkenntnisse politischer Wissenschaft auf unsere scheinbare Nach¬
ahmung Englands jedem Leser nahe.
Und wie durchschlagend sind die Gesichtspunkte der Gneist'schen Studien
^er England! wie reich ist das Material juristischer und historischer Detail-
^untnisse, das Gneist erforscht hat und mit dem er nun operirt! Etwas
schwerfällig ist die Darstellung; in der überströmenden Fülle des Details
^r>ge oft der eigentliche Gedanke nicht recht durch: für einen nicht an wissen-
schciftliche Gedankenarbeit gewöhnten Leser ist es oft eine nicht ganz leichte
^ehe, dem Gange der Untersuchung zu folgen; aber wie lohnend ist die
Zugewandte Anstrengung, wie durch und durch original die von Gneist ge¬
wonnenen Resultate der Forschung! Gneist hat wiederholt in verschiedener
Grenzboten II. 1871. 113
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