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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Gestaltung seine Arbeit umgeformt und immer von neuen Seiten aus sein
Werk beleuchtet und dargeboten; bald mehr das historische Werden des Heu-
tigen England darlegend, bald die heutigen Zustände erklärend, zergliedernd,
t'ritisireno. Auch zu Vergleichen mit den kontinentalen Verfassungsentwicke¬
lungen hat er schon wiederholt angesetzt und vom Boden der in England
gewonnenen politischen Anschauungen aus unsere deutschen Einrichtungen
kritischer Erörterung unterzogen. So eben erscheint in neuer, wieder ganz
neu durchgearbeiteter Darstellung die 3te Auflage des "Selfgovernment in
England", und ruft uns die großen und bleibenden Verdienste von Gneist in
das Gedächtniß zurück.

Den früheren landläufigen übertreibender Vorstellungen von der Kraft
der parlamentarischen Formen und Einrichtungen hält Gneist die Thatsache
entgegen, daß in England nur auf dem Grunde der Selbstverwaltung der
Kreise durch unbesoldete Ehrenämter der angesehensten Kreisbewohner die
parlamentarische Negierung möglich geworden ist: Selfgovernment und Parla¬
mentarismus bilden nothwendige Ergänzungen zu einander, ja das erste ist
die unbedingt nothwendige Voraussetzung des zweiten: wäre nicht das Self¬
government in Geschichte und Tradition Englands festbegründet, so würde
der seit dem 18. Jahrhundert England beherrschende Parlamentarismus zur
Auflösung des Staates, zur Zersetzung und Zerstörung der Volksblüthe ge¬
führt haben. Diesen Unterbau des parlamentarischen Staates hat Gneist
gewissermaßen neu entdeckt; wenn er selbst auch auf den Vorgang Vincke's
hinweist als desjenigen, der die eigenthümlichen Verhältnisse der Verwaltung
Großbritanniens zuerst richtiger erfaßt habe, so ist doch seine eigene Auffassung
derselben Einrichtungen viel tiefer, viel begründeter und hält den Zusammen¬
hang mit der Verfassungsfrage viel energischer im Auge. Der eigentlich fun¬
damentale Unterschied des englischen von den continentalen Staaten besteht
in dieser überall durch das Gesetz geregelten freiwilligen Thätigkeit der höhe¬
ren Gesellschaftsklassen für die locale Verwaltung des Landes; auf gesetzlicher,
festruhender Basis, unberührt durch den politischen Parteikampf wird Stadt
und Land regiert durch unbesoldete freiwillige Besorgung der Regierungs¬
beschlüsse von Seiten staatlich beauftragter Personen; aber der Charakter des
unbesoldeten Ehrenamtes zwingt dazu, nur die besitzenden Klassen in diesen
Dienst zu ziehen. Diese im Selfgovernment schon gebildeten und erprobten
Personen sind es, welche das Parlament zusammensetzen und sich dort der
Regierung des ganzen Landes widmen. Wer nun diesen durch und durch
aristokratischen Charakter Englands in seiner ganzen Schärfe aufgefaßt hat
und gerade durch ihn die politische Blüthe Englands im vorigen Jahrhundert
garantirr sieht, der wird der neueren und neuesten Phase der englischen Ent¬
wickelung ganz anders gegenüberstehen, als die bewundernde Masse unserer


Gestaltung seine Arbeit umgeformt und immer von neuen Seiten aus sein
Werk beleuchtet und dargeboten; bald mehr das historische Werden des Heu-
tigen England darlegend, bald die heutigen Zustände erklärend, zergliedernd,
t'ritisireno. Auch zu Vergleichen mit den kontinentalen Verfassungsentwicke¬
lungen hat er schon wiederholt angesetzt und vom Boden der in England
gewonnenen politischen Anschauungen aus unsere deutschen Einrichtungen
kritischer Erörterung unterzogen. So eben erscheint in neuer, wieder ganz
neu durchgearbeiteter Darstellung die 3te Auflage des „Selfgovernment in
England", und ruft uns die großen und bleibenden Verdienste von Gneist in
das Gedächtniß zurück.

Den früheren landläufigen übertreibender Vorstellungen von der Kraft
der parlamentarischen Formen und Einrichtungen hält Gneist die Thatsache
entgegen, daß in England nur auf dem Grunde der Selbstverwaltung der
Kreise durch unbesoldete Ehrenämter der angesehensten Kreisbewohner die
parlamentarische Negierung möglich geworden ist: Selfgovernment und Parla¬
mentarismus bilden nothwendige Ergänzungen zu einander, ja das erste ist
die unbedingt nothwendige Voraussetzung des zweiten: wäre nicht das Self¬
government in Geschichte und Tradition Englands festbegründet, so würde
der seit dem 18. Jahrhundert England beherrschende Parlamentarismus zur
Auflösung des Staates, zur Zersetzung und Zerstörung der Volksblüthe ge¬
führt haben. Diesen Unterbau des parlamentarischen Staates hat Gneist
gewissermaßen neu entdeckt; wenn er selbst auch auf den Vorgang Vincke's
hinweist als desjenigen, der die eigenthümlichen Verhältnisse der Verwaltung
Großbritanniens zuerst richtiger erfaßt habe, so ist doch seine eigene Auffassung
derselben Einrichtungen viel tiefer, viel begründeter und hält den Zusammen¬
hang mit der Verfassungsfrage viel energischer im Auge. Der eigentlich fun¬
damentale Unterschied des englischen von den continentalen Staaten besteht
in dieser überall durch das Gesetz geregelten freiwilligen Thätigkeit der höhe¬
ren Gesellschaftsklassen für die locale Verwaltung des Landes; auf gesetzlicher,
festruhender Basis, unberührt durch den politischen Parteikampf wird Stadt
und Land regiert durch unbesoldete freiwillige Besorgung der Regierungs¬
beschlüsse von Seiten staatlich beauftragter Personen; aber der Charakter des
unbesoldeten Ehrenamtes zwingt dazu, nur die besitzenden Klassen in diesen
Dienst zu ziehen. Diese im Selfgovernment schon gebildeten und erprobten
Personen sind es, welche das Parlament zusammensetzen und sich dort der
Regierung des ganzen Landes widmen. Wer nun diesen durch und durch
aristokratischen Charakter Englands in seiner ganzen Schärfe aufgefaßt hat
und gerade durch ihn die politische Blüthe Englands im vorigen Jahrhundert
garantirr sieht, der wird der neueren und neuesten Phase der englischen Ent¬
wickelung ganz anders gegenüberstehen, als die bewundernde Masse unserer


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[0346] Gestaltung seine Arbeit umgeformt und immer von neuen Seiten aus sein Werk beleuchtet und dargeboten; bald mehr das historische Werden des Heu- tigen England darlegend, bald die heutigen Zustände erklärend, zergliedernd, t'ritisireno. Auch zu Vergleichen mit den kontinentalen Verfassungsentwicke¬ lungen hat er schon wiederholt angesetzt und vom Boden der in England gewonnenen politischen Anschauungen aus unsere deutschen Einrichtungen kritischer Erörterung unterzogen. So eben erscheint in neuer, wieder ganz neu durchgearbeiteter Darstellung die 3te Auflage des „Selfgovernment in England", und ruft uns die großen und bleibenden Verdienste von Gneist in das Gedächtniß zurück. Den früheren landläufigen übertreibender Vorstellungen von der Kraft der parlamentarischen Formen und Einrichtungen hält Gneist die Thatsache entgegen, daß in England nur auf dem Grunde der Selbstverwaltung der Kreise durch unbesoldete Ehrenämter der angesehensten Kreisbewohner die parlamentarische Negierung möglich geworden ist: Selfgovernment und Parla¬ mentarismus bilden nothwendige Ergänzungen zu einander, ja das erste ist die unbedingt nothwendige Voraussetzung des zweiten: wäre nicht das Self¬ government in Geschichte und Tradition Englands festbegründet, so würde der seit dem 18. Jahrhundert England beherrschende Parlamentarismus zur Auflösung des Staates, zur Zersetzung und Zerstörung der Volksblüthe ge¬ führt haben. Diesen Unterbau des parlamentarischen Staates hat Gneist gewissermaßen neu entdeckt; wenn er selbst auch auf den Vorgang Vincke's hinweist als desjenigen, der die eigenthümlichen Verhältnisse der Verwaltung Großbritanniens zuerst richtiger erfaßt habe, so ist doch seine eigene Auffassung derselben Einrichtungen viel tiefer, viel begründeter und hält den Zusammen¬ hang mit der Verfassungsfrage viel energischer im Auge. Der eigentlich fun¬ damentale Unterschied des englischen von den continentalen Staaten besteht in dieser überall durch das Gesetz geregelten freiwilligen Thätigkeit der höhe¬ ren Gesellschaftsklassen für die locale Verwaltung des Landes; auf gesetzlicher, festruhender Basis, unberührt durch den politischen Parteikampf wird Stadt und Land regiert durch unbesoldete freiwillige Besorgung der Regierungs¬ beschlüsse von Seiten staatlich beauftragter Personen; aber der Charakter des unbesoldeten Ehrenamtes zwingt dazu, nur die besitzenden Klassen in diesen Dienst zu ziehen. Diese im Selfgovernment schon gebildeten und erprobten Personen sind es, welche das Parlament zusammensetzen und sich dort der Regierung des ganzen Landes widmen. Wer nun diesen durch und durch aristokratischen Charakter Englands in seiner ganzen Schärfe aufgefaßt hat und gerade durch ihn die politische Blüthe Englands im vorigen Jahrhundert garantirr sieht, der wird der neueren und neuesten Phase der englischen Ent¬ wickelung ganz anders gegenüberstehen, als die bewundernde Masse unserer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/346>, abgerufen am 05.02.2025.