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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Selfgovernment und "Jarlmnentarismus.*)

Unsere politischen Anschauungen in Deutschland haben im sechsten Jahr¬
zehnt unseres Jahrhunderts einen durchgreifenden Umschwung erfahren: im
Gewühl der Tagesereignisse und der Tagespolitik geben wir nicht immer uns
Rechenschaft davon, eine wie große Kluft uns heute mit unserem politischen
Denken und Trachten schon von der Betrachtungsweise der vierziger Jahre
scheidet. Damals war der große und breite Strom der öffentlichen liberalen
Meinung hervorgegangen aus Theorien eines kosmopolitischen Constitutionalis-
mus, wie er sich besonders am Vorbilde der französischen Charte, an den
Schriften der französischen "Doctrinärs" ausgebildet hatte: ihren Ursprung
sucht diese politische Doctrin einerseits in den naturrechtlichen Ideen vom
Staatsverträge, andererseits in Montesquieu's panegyrischen, aber durchaus
unzutreffender Erörterungen der englischen Verfassungszustande seiner Zeit.
Was sich dieser allgemeinen liberalen Strömung damals widersetzte, das war
nicht mächtig genug, ihr Einhalt zu thun und war auch im Grunde nicht
genug von innerer Kraft des Gedankens erfüllt. Die theokratischen, die feu¬
dalen, die absolutistischen Theorien, wiesehr sie auch in den oberen Regionen
der politischen Welt heimisch sein mochten, waren doch nicht geeignet, in der
mittleren Schicht der gebildeten Kreise Wurzel zu fassen, und die Neste der
"historischen Schule", einstens des Stolzes und unvergänglichen Ruhmes un¬
serer deutschen Wissenschaft Zeuge, waren von ihrem Wege abgekommen und
in den Dienst der rückschrittlichen Tendenzen getreten; man hatte sich hier ge¬
wöhnt, "das Alte zu lieben, weil es alt und nicht weil es gut war", man
strebte in' dies Alte zurück, und dafür konnte man nicht Propaganda in der
vorwärts drängenden Generation machen. Kurz, der Liberalismus hatte in
der öffentlichen Meinung ganz entschieden das Uebergewicht. Gegen alle
Schäden der staatlichen Zustände galt die Einführung einer mit möglichst
weitgehenden Rechten in Gesetzgebung und Steuerbewilligung ausgestatteten
Volksvertretung als unfehlbares Heilmittel. Mit fast naiver Zuversicht meinte
man, im Sturmlauf, vielleicht durch Gewährungen von oben, vielleicht auch
durch einige Volksauflaufe und dergleichen dies Endziel erreichen zu können.

Das Jahr 1848 ist voll solcher Hoffnungen, voll solcher Versuche. Eine



') R. Gneist Selfgavcrnment, Communalvcrfassung und Verwaltungsgerichte in England.
Dritte, umgearbeitete Auflage (in einem Bande). Berlin. I. Springer !87I. A. Todd die parlamentarische Regierung in England, ihre Entstehun.,, Entwickelung und
praktische Gestaltung. Aus dem Englischen übersehe van R. A s, in a u n. !. Bd, ^ 2. Bd-
1871. Berlin. I- Springer.
Selfgovernment und "Jarlmnentarismus.*)

Unsere politischen Anschauungen in Deutschland haben im sechsten Jahr¬
zehnt unseres Jahrhunderts einen durchgreifenden Umschwung erfahren: im
Gewühl der Tagesereignisse und der Tagespolitik geben wir nicht immer uns
Rechenschaft davon, eine wie große Kluft uns heute mit unserem politischen
Denken und Trachten schon von der Betrachtungsweise der vierziger Jahre
scheidet. Damals war der große und breite Strom der öffentlichen liberalen
Meinung hervorgegangen aus Theorien eines kosmopolitischen Constitutionalis-
mus, wie er sich besonders am Vorbilde der französischen Charte, an den
Schriften der französischen „Doctrinärs" ausgebildet hatte: ihren Ursprung
sucht diese politische Doctrin einerseits in den naturrechtlichen Ideen vom
Staatsverträge, andererseits in Montesquieu's panegyrischen, aber durchaus
unzutreffender Erörterungen der englischen Verfassungszustande seiner Zeit.
Was sich dieser allgemeinen liberalen Strömung damals widersetzte, das war
nicht mächtig genug, ihr Einhalt zu thun und war auch im Grunde nicht
genug von innerer Kraft des Gedankens erfüllt. Die theokratischen, die feu¬
dalen, die absolutistischen Theorien, wiesehr sie auch in den oberen Regionen
der politischen Welt heimisch sein mochten, waren doch nicht geeignet, in der
mittleren Schicht der gebildeten Kreise Wurzel zu fassen, und die Neste der
„historischen Schule", einstens des Stolzes und unvergänglichen Ruhmes un¬
serer deutschen Wissenschaft Zeuge, waren von ihrem Wege abgekommen und
in den Dienst der rückschrittlichen Tendenzen getreten; man hatte sich hier ge¬
wöhnt, „das Alte zu lieben, weil es alt und nicht weil es gut war", man
strebte in' dies Alte zurück, und dafür konnte man nicht Propaganda in der
vorwärts drängenden Generation machen. Kurz, der Liberalismus hatte in
der öffentlichen Meinung ganz entschieden das Uebergewicht. Gegen alle
Schäden der staatlichen Zustände galt die Einführung einer mit möglichst
weitgehenden Rechten in Gesetzgebung und Steuerbewilligung ausgestatteten
Volksvertretung als unfehlbares Heilmittel. Mit fast naiver Zuversicht meinte
man, im Sturmlauf, vielleicht durch Gewährungen von oben, vielleicht auch
durch einige Volksauflaufe und dergleichen dies Endziel erreichen zu können.

Das Jahr 1848 ist voll solcher Hoffnungen, voll solcher Versuche. Eine



') R. Gneist Selfgavcrnment, Communalvcrfassung und Verwaltungsgerichte in England.
Dritte, umgearbeitete Auflage (in einem Bande). Berlin. I. Springer !87I. A. Todd die parlamentarische Regierung in England, ihre Entstehun.,, Entwickelung und
praktische Gestaltung. Aus dem Englischen übersehe van R. A s, in a u n. !. Bd, ^ 2. Bd-
1871. Berlin. I- Springer.
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[0344] Selfgovernment und "Jarlmnentarismus.*) Unsere politischen Anschauungen in Deutschland haben im sechsten Jahr¬ zehnt unseres Jahrhunderts einen durchgreifenden Umschwung erfahren: im Gewühl der Tagesereignisse und der Tagespolitik geben wir nicht immer uns Rechenschaft davon, eine wie große Kluft uns heute mit unserem politischen Denken und Trachten schon von der Betrachtungsweise der vierziger Jahre scheidet. Damals war der große und breite Strom der öffentlichen liberalen Meinung hervorgegangen aus Theorien eines kosmopolitischen Constitutionalis- mus, wie er sich besonders am Vorbilde der französischen Charte, an den Schriften der französischen „Doctrinärs" ausgebildet hatte: ihren Ursprung sucht diese politische Doctrin einerseits in den naturrechtlichen Ideen vom Staatsverträge, andererseits in Montesquieu's panegyrischen, aber durchaus unzutreffender Erörterungen der englischen Verfassungszustande seiner Zeit. Was sich dieser allgemeinen liberalen Strömung damals widersetzte, das war nicht mächtig genug, ihr Einhalt zu thun und war auch im Grunde nicht genug von innerer Kraft des Gedankens erfüllt. Die theokratischen, die feu¬ dalen, die absolutistischen Theorien, wiesehr sie auch in den oberen Regionen der politischen Welt heimisch sein mochten, waren doch nicht geeignet, in der mittleren Schicht der gebildeten Kreise Wurzel zu fassen, und die Neste der „historischen Schule", einstens des Stolzes und unvergänglichen Ruhmes un¬ serer deutschen Wissenschaft Zeuge, waren von ihrem Wege abgekommen und in den Dienst der rückschrittlichen Tendenzen getreten; man hatte sich hier ge¬ wöhnt, „das Alte zu lieben, weil es alt und nicht weil es gut war", man strebte in' dies Alte zurück, und dafür konnte man nicht Propaganda in der vorwärts drängenden Generation machen. Kurz, der Liberalismus hatte in der öffentlichen Meinung ganz entschieden das Uebergewicht. Gegen alle Schäden der staatlichen Zustände galt die Einführung einer mit möglichst weitgehenden Rechten in Gesetzgebung und Steuerbewilligung ausgestatteten Volksvertretung als unfehlbares Heilmittel. Mit fast naiver Zuversicht meinte man, im Sturmlauf, vielleicht durch Gewährungen von oben, vielleicht auch durch einige Volksauflaufe und dergleichen dies Endziel erreichen zu können. Das Jahr 1848 ist voll solcher Hoffnungen, voll solcher Versuche. Eine ') R. Gneist Selfgavcrnment, Communalvcrfassung und Verwaltungsgerichte in England. Dritte, umgearbeitete Auflage (in einem Bande). Berlin. I. Springer !87I. A. Todd die parlamentarische Regierung in England, ihre Entstehun.,, Entwickelung und praktische Gestaltung. Aus dem Englischen übersehe van R. A s, in a u n. !. Bd, ^ 2. Bd- 1871. Berlin. I- Springer.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/344>, abgerufen am 05.02.2025.