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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Scheusals bemerkte der Coroner von Surrey, in dessen Amtsbezirk das Ver¬
brechen verübt worden war, daß man innerhalb weniger Wochen, unab¬
hängig vom vorliegenden Falle, an 16 Kinderleichen in seiner Grafschaft auf¬
gefunden habe. Und in der That hat die Zerstörung von Kindern durch die
Hand der eignen Eltern in den letzten Jahren einen solchen Grad erreicht,
der neben einer souveränen Verachtung des Gesetzes eine tiefe, bodenlose Ver¬
derbtheit aller besseren Gefühle bekundet. Der epidemische Charakter, die Recru-
descenz dieses Verbrechens hat auf hervorragendste Weise die öffentliche Auf¬
merksamkeit auf sich gezogen, beschäftigt alle Geister. Die ganze englische
Presse stieß einen Alarmschrei aus. Und höchst auffallend: nicht nur die poli¬
tischen Zeitungen, auch die Organe der Architektur, der Marine, der Finanz
u. s. w, vereinigten ihre Stimmen, um das Uebel zu bezeichnen, seine Ur¬
sachen aufzusuchen und ein promptes energisches Hülfsmittel zu fordern. An
diesem außergewöhnlichen Zeichen, das nur bei außergewöhnlichen Gelegen¬
heiten sich zeigt, kann man erkennen, daß das Uebel in der That existirt und
daß es ein großes ist. Will man noch einen überzeugenderen Beweis? In
London existirt eine aus angesehenen Personen zusammengesetzte Gesellschaft,*)
die es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Kindermord zu steuern. Eine Ge¬
sellschaft ausdrücklich gegründet um Väter und Mütter zu verhindern, ihre
Kinder umzubringen!

Diese unzähligen Kindermorde kommen theilweise daher, daß in England
nicht Anstalten genug vorhanden sind, um die verlassenen Kinder aufzuneh¬
men, und daß die vorhandenen Anstalten eine höchst mangelhafte Organi¬
sation besitzen. In ganz England und Irland existirt nur ein einziges Hos¬
piz für die Aufnahme verlassener Kinder und zwar in London: sein Name
5ounÄIinL Hospital, zu deutsch "Findelhospital." In den übrigen Theilen
des Landes in Wales, wie in Irland -- Schottland ausgenommen -- müs¬
sen die 'Wol-KIwusöS, wörtlich Arbeitshäuser, in der That aber ungeheure
Armendepots, wohl oder übel die Rolle der Findelhäuser versehen. Das
^ouvälinF Hospital zu London ist nur für London und seine Vorstädte an¬
gelegt. Da nun aber die Bevölkerung Londons 3.251.804 Personen zählt,
so sieht man leicht, daß das ?ouinZIinss Hospital, obgleich es ungeheure Re-
venüen hat und gut verwaltet wird, den Bedürfnissen der Metropole nicht
genügen kann. Denn einmal nimmt es kein Kind auf. das wirklich verlassen
aufgefunden wird, ein Verfahren, das im directen Widerspruch mit seinem
Namen steht. Man läßt nur Kinder zu, deren Mütter sich selbst präsentiren
und auf "zufriedenstellende Weise," die an sie gestellten Fragen beantworten.
Diese Zurückweisung jedes Findlings und die peinlichen Maßregeln, welchen
Mütter unterworfen werden, bilden ein bedauerliches System, das vielmehr
zum^ Verbrechen antreibt, anstatt es zu verhindern. So weit für London.



') national Looiot^ !ma ^"Min lor et"ö xrsvvntioll ok mksntioiäs.

Scheusals bemerkte der Coroner von Surrey, in dessen Amtsbezirk das Ver¬
brechen verübt worden war, daß man innerhalb weniger Wochen, unab¬
hängig vom vorliegenden Falle, an 16 Kinderleichen in seiner Grafschaft auf¬
gefunden habe. Und in der That hat die Zerstörung von Kindern durch die
Hand der eignen Eltern in den letzten Jahren einen solchen Grad erreicht,
der neben einer souveränen Verachtung des Gesetzes eine tiefe, bodenlose Ver¬
derbtheit aller besseren Gefühle bekundet. Der epidemische Charakter, die Recru-
descenz dieses Verbrechens hat auf hervorragendste Weise die öffentliche Auf¬
merksamkeit auf sich gezogen, beschäftigt alle Geister. Die ganze englische
Presse stieß einen Alarmschrei aus. Und höchst auffallend: nicht nur die poli¬
tischen Zeitungen, auch die Organe der Architektur, der Marine, der Finanz
u. s. w, vereinigten ihre Stimmen, um das Uebel zu bezeichnen, seine Ur¬
sachen aufzusuchen und ein promptes energisches Hülfsmittel zu fordern. An
diesem außergewöhnlichen Zeichen, das nur bei außergewöhnlichen Gelegen¬
heiten sich zeigt, kann man erkennen, daß das Uebel in der That existirt und
daß es ein großes ist. Will man noch einen überzeugenderen Beweis? In
London existirt eine aus angesehenen Personen zusammengesetzte Gesellschaft,*)
die es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Kindermord zu steuern. Eine Ge¬
sellschaft ausdrücklich gegründet um Väter und Mütter zu verhindern, ihre
Kinder umzubringen!

Diese unzähligen Kindermorde kommen theilweise daher, daß in England
nicht Anstalten genug vorhanden sind, um die verlassenen Kinder aufzuneh¬
men, und daß die vorhandenen Anstalten eine höchst mangelhafte Organi¬
sation besitzen. In ganz England und Irland existirt nur ein einziges Hos¬
piz für die Aufnahme verlassener Kinder und zwar in London: sein Name
5ounÄIinL Hospital, zu deutsch „Findelhospital." In den übrigen Theilen
des Landes in Wales, wie in Irland — Schottland ausgenommen — müs¬
sen die 'Wol-KIwusöS, wörtlich Arbeitshäuser, in der That aber ungeheure
Armendepots, wohl oder übel die Rolle der Findelhäuser versehen. Das
^ouvälinF Hospital zu London ist nur für London und seine Vorstädte an¬
gelegt. Da nun aber die Bevölkerung Londons 3.251.804 Personen zählt,
so sieht man leicht, daß das ?ouinZIinss Hospital, obgleich es ungeheure Re-
venüen hat und gut verwaltet wird, den Bedürfnissen der Metropole nicht
genügen kann. Denn einmal nimmt es kein Kind auf. das wirklich verlassen
aufgefunden wird, ein Verfahren, das im directen Widerspruch mit seinem
Namen steht. Man läßt nur Kinder zu, deren Mütter sich selbst präsentiren
und auf „zufriedenstellende Weise," die an sie gestellten Fragen beantworten.
Diese Zurückweisung jedes Findlings und die peinlichen Maßregeln, welchen
Mütter unterworfen werden, bilden ein bedauerliches System, das vielmehr
zum^ Verbrechen antreibt, anstatt es zu verhindern. So weit für London.



') national Looiot^ !ma ^«Min lor et»ö xrsvvntioll ok mksntioiäs.
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[0285] Scheusals bemerkte der Coroner von Surrey, in dessen Amtsbezirk das Ver¬ brechen verübt worden war, daß man innerhalb weniger Wochen, unab¬ hängig vom vorliegenden Falle, an 16 Kinderleichen in seiner Grafschaft auf¬ gefunden habe. Und in der That hat die Zerstörung von Kindern durch die Hand der eignen Eltern in den letzten Jahren einen solchen Grad erreicht, der neben einer souveränen Verachtung des Gesetzes eine tiefe, bodenlose Ver¬ derbtheit aller besseren Gefühle bekundet. Der epidemische Charakter, die Recru- descenz dieses Verbrechens hat auf hervorragendste Weise die öffentliche Auf¬ merksamkeit auf sich gezogen, beschäftigt alle Geister. Die ganze englische Presse stieß einen Alarmschrei aus. Und höchst auffallend: nicht nur die poli¬ tischen Zeitungen, auch die Organe der Architektur, der Marine, der Finanz u. s. w, vereinigten ihre Stimmen, um das Uebel zu bezeichnen, seine Ur¬ sachen aufzusuchen und ein promptes energisches Hülfsmittel zu fordern. An diesem außergewöhnlichen Zeichen, das nur bei außergewöhnlichen Gelegen¬ heiten sich zeigt, kann man erkennen, daß das Uebel in der That existirt und daß es ein großes ist. Will man noch einen überzeugenderen Beweis? In London existirt eine aus angesehenen Personen zusammengesetzte Gesellschaft,*) die es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Kindermord zu steuern. Eine Ge¬ sellschaft ausdrücklich gegründet um Väter und Mütter zu verhindern, ihre Kinder umzubringen! Diese unzähligen Kindermorde kommen theilweise daher, daß in England nicht Anstalten genug vorhanden sind, um die verlassenen Kinder aufzuneh¬ men, und daß die vorhandenen Anstalten eine höchst mangelhafte Organi¬ sation besitzen. In ganz England und Irland existirt nur ein einziges Hos¬ piz für die Aufnahme verlassener Kinder und zwar in London: sein Name 5ounÄIinL Hospital, zu deutsch „Findelhospital." In den übrigen Theilen des Landes in Wales, wie in Irland — Schottland ausgenommen — müs¬ sen die 'Wol-KIwusöS, wörtlich Arbeitshäuser, in der That aber ungeheure Armendepots, wohl oder übel die Rolle der Findelhäuser versehen. Das ^ouvälinF Hospital zu London ist nur für London und seine Vorstädte an¬ gelegt. Da nun aber die Bevölkerung Londons 3.251.804 Personen zählt, so sieht man leicht, daß das ?ouinZIinss Hospital, obgleich es ungeheure Re- venüen hat und gut verwaltet wird, den Bedürfnissen der Metropole nicht genügen kann. Denn einmal nimmt es kein Kind auf. das wirklich verlassen aufgefunden wird, ein Verfahren, das im directen Widerspruch mit seinem Namen steht. Man läßt nur Kinder zu, deren Mütter sich selbst präsentiren und auf „zufriedenstellende Weise," die an sie gestellten Fragen beantworten. Diese Zurückweisung jedes Findlings und die peinlichen Maßregeln, welchen Mütter unterworfen werden, bilden ein bedauerliches System, das vielmehr zum^ Verbrechen antreibt, anstatt es zu verhindern. So weit für London. ') national Looiot^ !ma ^«Min lor et»ö xrsvvntioll ok mksntioiäs.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/285>, abgerufen am 06.02.2025.