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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Beschaffenheit des weltlichen Gesangs. Bald darauf veröffentlichte
ersterer aus den reichen Schätzen seiner Bibliothek: "Ausgewählte Ton¬
stücke für das Pianoforte von berühmten Meistern aus dem 17. u. 18.
Jahrh." (Scarlatti, Pescetti. Muffat. Couperin, Kühnan, Benda, Böhm) und
damit beginnt nun die Reihe der Ausgrabungen, die bis in die jüngste Zeit
eifrig fortgesetzt, besonders das Gebiet der Clavier- und Gesangmusik be¬
reicherten. Die gleichzeitigen Forschungen auf dem Felde der kirchlichen Hym-
nologie und des Choralgesangs, sowie mit diesen zusammenhängend, auf dem
des Volksliedes, haben jene im hohen Grade gefördert und belebt. Werke
einer Kunstepoche, die der Gegenwart fernab liegt, haben in ihrer äußeren
Erscheinung immer etwas Befremdliches. Man findet sich leicht in den Ideen-
gang und die Form eines modernen Tonstücks, wenn dasselbe seinem Inhalt
nach weniger originell als conventionell gedacht ist. Geht man aber in Zeiten
zurück, wo ein anderer Gehalt erstrebt wurde, die instrumentalen Mittel, die
Technik ganz andere als heute waren, so handelt es sich für den Ausführen¬
den nicht allein darum, der Noten und Schwierigkeiten Herr zu werden, son¬
dern ein Werk nach Geist und Wesen, so zu sagen von innen heraus, vom
Standpunkte des Tonsetzers und seiner Zeit aus, zu reproduciren. Derartiges
ist aber nicht leicht; das setzt eine ungewöhnliche historische und musikalische
Bildung, gründliche Kenntnisse, ernstes Studium voraus. Virtuosen von Fach,
darauf angewiesen, das Brillante und Bestechende zu cultiviren, Musiker von
Profession, auf den Kampf um die Existenz beschränkt, vermögen, selbst die
nöthigen Vorbedingungen vorausgesetzt, selten neue interessante literarische Er¬
scheinungen zu erfassen und zu würdigen. Kunstgelehrte und passionirte Di¬
lettanten sind in der Regel einseitige Starrköpfe. Da nun aber nach jeder
neuen Entdeckung, nach jedem interessanten Fund, großer Lärm geschlagen
wird, so können Virtuosen, die den Schein tieferer Einsicht bewahren wollten,
den sich auf den Markt drängenden Ausgrabungen sich doch nicht völlig ver¬
schließen und durch sie wurden denn auch viele alte, längstverschollene Ton¬
sätze endlich sogar hoffähig gemacht und in die Concertsäle verpflanzt. Aber
mit dem Vortrage derselben fanden sich diese Herren meist ziemlich übel ab.
Nicht im Geiste des Komponisten und der Zeit, sondern im modernen Ge¬
schmack, aufgeputzt mit allen koketten Künsten und sentimentalen Zierrathen
einer überfeinerten Technik, hört man in der Regel derartige Schöpfungen
spielen. Der Concertsaal ist wohl der Ort vielen Hörern gleichzeitig die Be¬
kanntschaft mit einem musikalischen Werke zu vermitteln, aber er ist kaum
die geeignete Stätte, kleinere Tonformen, einfache Sätze, Stücke, die öfter ge¬
hört werden müssen, zum Verständniß zu bringen. Ueberlassen wir dem Con¬
certsaale große Werke für Orchester und Chor und selbst die umfangreicheren
und stärker besetzten der Kammermusik. Kleinere und feinere Piecen, denen


Beschaffenheit des weltlichen Gesangs. Bald darauf veröffentlichte
ersterer aus den reichen Schätzen seiner Bibliothek: „Ausgewählte Ton¬
stücke für das Pianoforte von berühmten Meistern aus dem 17. u. 18.
Jahrh." (Scarlatti, Pescetti. Muffat. Couperin, Kühnan, Benda, Böhm) und
damit beginnt nun die Reihe der Ausgrabungen, die bis in die jüngste Zeit
eifrig fortgesetzt, besonders das Gebiet der Clavier- und Gesangmusik be¬
reicherten. Die gleichzeitigen Forschungen auf dem Felde der kirchlichen Hym-
nologie und des Choralgesangs, sowie mit diesen zusammenhängend, auf dem
des Volksliedes, haben jene im hohen Grade gefördert und belebt. Werke
einer Kunstepoche, die der Gegenwart fernab liegt, haben in ihrer äußeren
Erscheinung immer etwas Befremdliches. Man findet sich leicht in den Ideen-
gang und die Form eines modernen Tonstücks, wenn dasselbe seinem Inhalt
nach weniger originell als conventionell gedacht ist. Geht man aber in Zeiten
zurück, wo ein anderer Gehalt erstrebt wurde, die instrumentalen Mittel, die
Technik ganz andere als heute waren, so handelt es sich für den Ausführen¬
den nicht allein darum, der Noten und Schwierigkeiten Herr zu werden, son¬
dern ein Werk nach Geist und Wesen, so zu sagen von innen heraus, vom
Standpunkte des Tonsetzers und seiner Zeit aus, zu reproduciren. Derartiges
ist aber nicht leicht; das setzt eine ungewöhnliche historische und musikalische
Bildung, gründliche Kenntnisse, ernstes Studium voraus. Virtuosen von Fach,
darauf angewiesen, das Brillante und Bestechende zu cultiviren, Musiker von
Profession, auf den Kampf um die Existenz beschränkt, vermögen, selbst die
nöthigen Vorbedingungen vorausgesetzt, selten neue interessante literarische Er¬
scheinungen zu erfassen und zu würdigen. Kunstgelehrte und passionirte Di¬
lettanten sind in der Regel einseitige Starrköpfe. Da nun aber nach jeder
neuen Entdeckung, nach jedem interessanten Fund, großer Lärm geschlagen
wird, so können Virtuosen, die den Schein tieferer Einsicht bewahren wollten,
den sich auf den Markt drängenden Ausgrabungen sich doch nicht völlig ver¬
schließen und durch sie wurden denn auch viele alte, längstverschollene Ton¬
sätze endlich sogar hoffähig gemacht und in die Concertsäle verpflanzt. Aber
mit dem Vortrage derselben fanden sich diese Herren meist ziemlich übel ab.
Nicht im Geiste des Komponisten und der Zeit, sondern im modernen Ge¬
schmack, aufgeputzt mit allen koketten Künsten und sentimentalen Zierrathen
einer überfeinerten Technik, hört man in der Regel derartige Schöpfungen
spielen. Der Concertsaal ist wohl der Ort vielen Hörern gleichzeitig die Be¬
kanntschaft mit einem musikalischen Werke zu vermitteln, aber er ist kaum
die geeignete Stätte, kleinere Tonformen, einfache Sätze, Stücke, die öfter ge¬
hört werden müssen, zum Verständniß zu bringen. Ueberlassen wir dem Con¬
certsaale große Werke für Orchester und Chor und selbst die umfangreicheren
und stärker besetzten der Kammermusik. Kleinere und feinere Piecen, denen


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[0270] Beschaffenheit des weltlichen Gesangs. Bald darauf veröffentlichte ersterer aus den reichen Schätzen seiner Bibliothek: „Ausgewählte Ton¬ stücke für das Pianoforte von berühmten Meistern aus dem 17. u. 18. Jahrh." (Scarlatti, Pescetti. Muffat. Couperin, Kühnan, Benda, Böhm) und damit beginnt nun die Reihe der Ausgrabungen, die bis in die jüngste Zeit eifrig fortgesetzt, besonders das Gebiet der Clavier- und Gesangmusik be¬ reicherten. Die gleichzeitigen Forschungen auf dem Felde der kirchlichen Hym- nologie und des Choralgesangs, sowie mit diesen zusammenhängend, auf dem des Volksliedes, haben jene im hohen Grade gefördert und belebt. Werke einer Kunstepoche, die der Gegenwart fernab liegt, haben in ihrer äußeren Erscheinung immer etwas Befremdliches. Man findet sich leicht in den Ideen- gang und die Form eines modernen Tonstücks, wenn dasselbe seinem Inhalt nach weniger originell als conventionell gedacht ist. Geht man aber in Zeiten zurück, wo ein anderer Gehalt erstrebt wurde, die instrumentalen Mittel, die Technik ganz andere als heute waren, so handelt es sich für den Ausführen¬ den nicht allein darum, der Noten und Schwierigkeiten Herr zu werden, son¬ dern ein Werk nach Geist und Wesen, so zu sagen von innen heraus, vom Standpunkte des Tonsetzers und seiner Zeit aus, zu reproduciren. Derartiges ist aber nicht leicht; das setzt eine ungewöhnliche historische und musikalische Bildung, gründliche Kenntnisse, ernstes Studium voraus. Virtuosen von Fach, darauf angewiesen, das Brillante und Bestechende zu cultiviren, Musiker von Profession, auf den Kampf um die Existenz beschränkt, vermögen, selbst die nöthigen Vorbedingungen vorausgesetzt, selten neue interessante literarische Er¬ scheinungen zu erfassen und zu würdigen. Kunstgelehrte und passionirte Di¬ lettanten sind in der Regel einseitige Starrköpfe. Da nun aber nach jeder neuen Entdeckung, nach jedem interessanten Fund, großer Lärm geschlagen wird, so können Virtuosen, die den Schein tieferer Einsicht bewahren wollten, den sich auf den Markt drängenden Ausgrabungen sich doch nicht völlig ver¬ schließen und durch sie wurden denn auch viele alte, längstverschollene Ton¬ sätze endlich sogar hoffähig gemacht und in die Concertsäle verpflanzt. Aber mit dem Vortrage derselben fanden sich diese Herren meist ziemlich übel ab. Nicht im Geiste des Komponisten und der Zeit, sondern im modernen Ge¬ schmack, aufgeputzt mit allen koketten Künsten und sentimentalen Zierrathen einer überfeinerten Technik, hört man in der Regel derartige Schöpfungen spielen. Der Concertsaal ist wohl der Ort vielen Hörern gleichzeitig die Be¬ kanntschaft mit einem musikalischen Werke zu vermitteln, aber er ist kaum die geeignete Stätte, kleinere Tonformen, einfache Sätze, Stücke, die öfter ge¬ hört werden müssen, zum Verständniß zu bringen. Ueberlassen wir dem Con¬ certsaale große Werke für Orchester und Chor und selbst die umfangreicheren und stärker besetzten der Kammermusik. Kleinere und feinere Piecen, denen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/270>, abgerufen am 05.02.2025.