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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Armensteuer, die doch bei der chaotischen Unordnung in der städtischen Ver¬
waltung an's Fabelhafte grenzen. Bekannt ist, daß schon im Anfang der
fünfziger Jahre bei einer großen Rattenjagd in den Cloaken von Paris, wäh¬
rend eines zweimonatlichen Treibens nahe an 600,000 getödtet wurden. Nun
darf man annehmen, daß kaum die Hälfte des Ungeziefers gefangen wurde,
demnach also 1,200,000 dieser Thiere unter Paris existirten. Eine gleiche,
wenn nicht doppelt große Anzahl wird in dem handeltreibenden London Hau¬
sen. Man berechne nun, daß zehn Ratten täglich nur ein Pfund Fleisch ver¬
zehren, was sehr wenig ist, so macht dies bei 600,000 Ratten 60,000 Pfund
Fleisch und bei 1,200.000 ungefähr 1S00 vollständige Ochsen pro Woche.
Doch diese Statistik hat für London sowie für Paris zwei Seiten. Wenn
man die Berechnung weiter treibt und annimmt, daß sämmtliche Ratten mit
einemmal abgethan wären, so findet man, daß jährlich 77,896 Ochsen oder
besser gesagt, 38,948 Tonnen animalische und vegetabilische Stoffe, die
aus den Häusern Londons in die Cloaken gespült werden, unvertilgt
bleiben, und so in Fäulniß und Gährung übergehen würden. Würde
nicht jedes Loch, jede Ecke in der großen Metropole mit schädlichen Dünsten
angefüllt sein und eine tödtliche Pestilenz über der Stadt hängen, gleich einem
Würgengel, der nichts verschont? Abgesehen aber von den Beschädigungen
der Gebäude, Zerstörung von Meubeln u. s. w, benagen die Ratten auch die
Extremitäten von Kindern, wenn diese im Schlaf liegen. Im letzten Winter
berichtete die hiesige Polizeizeitung mehrere wahrhaft gräßliche Beispiele von
Angriffen dieser Bestien auf Kinder und selbst auf erwachsene Personen. Diese
Beispiele könnten in's Unendliche ausgedehnt werden. Indessen, neben dieser
hyänenhaften Natur zeigt die Ratte auch wieder Züge von großer Sanftheit,
sowie sie sich, gleich Hund und Katze, an den Menschen gewöhnt. Es ist
mir in dieser Hinsicht ein Beispiel aus Thüringen erinnerlich, wo ein Land¬
wirth eine Ratte mit einem Naben und einer Katze, wenn ich nicht irre, als
Polizisten gegen das Ungeziefer in seinem Hause hielt. Der Engländer Jesse
und der Prediger Cotton wollen selbst gesehen haben, daß blinde Ratten von
ihren Kindern oder Freunden geführt wurden. Die Mutterliebe der Ratten
kann allen anderen Thieren als gutes Beispiel empfohlen werden, und weit
entfernt davon, unsaubere, verkommene Thiere zu sein, wie manche glauben
mögen, sind sie im Gegentheil aristokratisch in ihren Gewohnheiten und Ma¬
nieren. Sir W. Jardine in seiner trefflichen Naturgeschichte sagt: "die Ratte
ist ein sehr reinliches Thier, denn selbst, wenn sie in einem Graben ihr Ob¬
dach hat, oder in einer Kloake mitten unter Schmutz und Unrath, so bewahrt
sie sich doch beständig vor jeder Verunreinigung und die Feldratten haben sehr
häufig ein Fell von großer Schönheit." Dasselbe wird von den Pariser, Gre-
nobler und Londoner Handschuhmachern sehr gesucht, welche es zur Anfertigung


Armensteuer, die doch bei der chaotischen Unordnung in der städtischen Ver¬
waltung an's Fabelhafte grenzen. Bekannt ist, daß schon im Anfang der
fünfziger Jahre bei einer großen Rattenjagd in den Cloaken von Paris, wäh¬
rend eines zweimonatlichen Treibens nahe an 600,000 getödtet wurden. Nun
darf man annehmen, daß kaum die Hälfte des Ungeziefers gefangen wurde,
demnach also 1,200,000 dieser Thiere unter Paris existirten. Eine gleiche,
wenn nicht doppelt große Anzahl wird in dem handeltreibenden London Hau¬
sen. Man berechne nun, daß zehn Ratten täglich nur ein Pfund Fleisch ver¬
zehren, was sehr wenig ist, so macht dies bei 600,000 Ratten 60,000 Pfund
Fleisch und bei 1,200.000 ungefähr 1S00 vollständige Ochsen pro Woche.
Doch diese Statistik hat für London sowie für Paris zwei Seiten. Wenn
man die Berechnung weiter treibt und annimmt, daß sämmtliche Ratten mit
einemmal abgethan wären, so findet man, daß jährlich 77,896 Ochsen oder
besser gesagt, 38,948 Tonnen animalische und vegetabilische Stoffe, die
aus den Häusern Londons in die Cloaken gespült werden, unvertilgt
bleiben, und so in Fäulniß und Gährung übergehen würden. Würde
nicht jedes Loch, jede Ecke in der großen Metropole mit schädlichen Dünsten
angefüllt sein und eine tödtliche Pestilenz über der Stadt hängen, gleich einem
Würgengel, der nichts verschont? Abgesehen aber von den Beschädigungen
der Gebäude, Zerstörung von Meubeln u. s. w, benagen die Ratten auch die
Extremitäten von Kindern, wenn diese im Schlaf liegen. Im letzten Winter
berichtete die hiesige Polizeizeitung mehrere wahrhaft gräßliche Beispiele von
Angriffen dieser Bestien auf Kinder und selbst auf erwachsene Personen. Diese
Beispiele könnten in's Unendliche ausgedehnt werden. Indessen, neben dieser
hyänenhaften Natur zeigt die Ratte auch wieder Züge von großer Sanftheit,
sowie sie sich, gleich Hund und Katze, an den Menschen gewöhnt. Es ist
mir in dieser Hinsicht ein Beispiel aus Thüringen erinnerlich, wo ein Land¬
wirth eine Ratte mit einem Naben und einer Katze, wenn ich nicht irre, als
Polizisten gegen das Ungeziefer in seinem Hause hielt. Der Engländer Jesse
und der Prediger Cotton wollen selbst gesehen haben, daß blinde Ratten von
ihren Kindern oder Freunden geführt wurden. Die Mutterliebe der Ratten
kann allen anderen Thieren als gutes Beispiel empfohlen werden, und weit
entfernt davon, unsaubere, verkommene Thiere zu sein, wie manche glauben
mögen, sind sie im Gegentheil aristokratisch in ihren Gewohnheiten und Ma¬
nieren. Sir W. Jardine in seiner trefflichen Naturgeschichte sagt: „die Ratte
ist ein sehr reinliches Thier, denn selbst, wenn sie in einem Graben ihr Ob¬
dach hat, oder in einer Kloake mitten unter Schmutz und Unrath, so bewahrt
sie sich doch beständig vor jeder Verunreinigung und die Feldratten haben sehr
häufig ein Fell von großer Schönheit." Dasselbe wird von den Pariser, Gre-
nobler und Londoner Handschuhmachern sehr gesucht, welche es zur Anfertigung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/190>, abgerufen am 10.02.2025.