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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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veranlaßte sicherlich die Vorsehung, ihr Feinde auf allen Seiten zu schaffen,
vom Menschen bis zum Reptil herab, um ihre Race in den gehörigen
Schranken zu halten. Mit einem Wort, die arme Ratte, obgleich sie als
Kloakenreiniger in London wie in Paris unschätzbare Dienste leistet, obgleich
sie, gleich anderen Geschöpfen, unzweifelhaft eine Mission zu erfüllen und eine
providentielle Nützlichkeit hat, findet nirgends auch nur ein Fünkchen von
Sympathie: welch eine Welt von Händen, Klauen und Schnäbeln sind wider
sie gekehrt! Sie wird verfolgt, wie Rom einen abtrünnigen Priester verfolgt,
ohne Gnade, ohne Barmherzigkeit. Doch das Compensationssystem eristirt
auch für die Ratte, wie für alle übrigen Creaturen. Umringt von Gefahren,
stets auf dem (jul-vivo, sollte man meinen, daß sie ein Leben voll fieber¬
hafter Unruhe führe. Bewahre! Dieselbe Vorsehung, die ihr Zähne gegeben,
ganz besonders geeignet für die Arbeit, welche sie zu vollbringen haben, hat
ihr auch einen Charakter verliehen, in voller Harmonie mit ihrem Loose.
Und sicherlich gibt es kein Thier, das ein sorgloseres, glücklicheres, indifferen¬
teres Aussehen hat, als die Ratte, wenn man sie aus der Ferne betrachtet.
In der Gefahr legt sie eine wahrhaft unglaubliche Kaltblütigkeit an den Tag,
gleichsam als wäre sie von dem Princip durchdrungen, uicht zu verzweifeln,
so lange noch ein Fünkchen von Leben übrig ist: bei solchen Gelegenheiten
entwickelt die Ratte einen hohen Grad von Schlauheit und bekundet einen an
Vernunft grenzenden Instinkt. Eine ganz eigenthümliche Thatsache ist, daß
männliche Ratten, wenn sie alt und verdrießlich werden, der Welt entsagen,
sich in die Einsamkeit zurückziehen und in voller Feindschaft und Widerwillen
mit ihrer ganzen Sippe leben. Auf diese Weise wird ihnen möglich, noch
längere Zeit am Leben zu bleiben und am Ende eines natürlichen Todes zu
sterben, wogegen, wenn sie unter den Ihrigen verblieben wären, sie beim er¬
sten Anfall von Podagra oder Schwäche gefressen sein würde. In dieser
beschaulichen Zurückgezogenheit erreichen sie oft in Folge des guten Lebens,
der geregelten Gewohnheiten und der ungestörten Nachtruhe eine übernatür¬
liche Größe und Dicke, sowie ein hohes Alter, und erweisen sich als äußerst
kräftige und entschiedene Gegner gegen jedes Thier, dem in den Sinn kommen
sollte, sie anzugreifen. Neben ihrer auffallenden Entschlossenheit und Wildheit
bei Vertheidigung ihres Lebens besitzt die Ratte, trotz ihres schwachen und
verächtlichen Aeußern. Anlagen und Neigungen, welche sie zu schlimmen Fein¬
den auch des Menschen machen. Die mitternächtlichen Einbrüche und Dieb¬
stähle, die in London alltäglich ausgeführt werden, sinken in nichtssagende
Unbedeutendheit, verglichen mit den Zerstörungen der Cloakratten, die sich in
einer Woche auf einen höheren Werth belaufen, als die jährlichen Annecti-
rungen der Oontlömon ok tlnz nigin. Ihren Tribut, den sie von England,
besonders in London fordern, übertrifft noch die Communalabgaben und die


veranlaßte sicherlich die Vorsehung, ihr Feinde auf allen Seiten zu schaffen,
vom Menschen bis zum Reptil herab, um ihre Race in den gehörigen
Schranken zu halten. Mit einem Wort, die arme Ratte, obgleich sie als
Kloakenreiniger in London wie in Paris unschätzbare Dienste leistet, obgleich
sie, gleich anderen Geschöpfen, unzweifelhaft eine Mission zu erfüllen und eine
providentielle Nützlichkeit hat, findet nirgends auch nur ein Fünkchen von
Sympathie: welch eine Welt von Händen, Klauen und Schnäbeln sind wider
sie gekehrt! Sie wird verfolgt, wie Rom einen abtrünnigen Priester verfolgt,
ohne Gnade, ohne Barmherzigkeit. Doch das Compensationssystem eristirt
auch für die Ratte, wie für alle übrigen Creaturen. Umringt von Gefahren,
stets auf dem (jul-vivo, sollte man meinen, daß sie ein Leben voll fieber¬
hafter Unruhe führe. Bewahre! Dieselbe Vorsehung, die ihr Zähne gegeben,
ganz besonders geeignet für die Arbeit, welche sie zu vollbringen haben, hat
ihr auch einen Charakter verliehen, in voller Harmonie mit ihrem Loose.
Und sicherlich gibt es kein Thier, das ein sorgloseres, glücklicheres, indifferen¬
teres Aussehen hat, als die Ratte, wenn man sie aus der Ferne betrachtet.
In der Gefahr legt sie eine wahrhaft unglaubliche Kaltblütigkeit an den Tag,
gleichsam als wäre sie von dem Princip durchdrungen, uicht zu verzweifeln,
so lange noch ein Fünkchen von Leben übrig ist: bei solchen Gelegenheiten
entwickelt die Ratte einen hohen Grad von Schlauheit und bekundet einen an
Vernunft grenzenden Instinkt. Eine ganz eigenthümliche Thatsache ist, daß
männliche Ratten, wenn sie alt und verdrießlich werden, der Welt entsagen,
sich in die Einsamkeit zurückziehen und in voller Feindschaft und Widerwillen
mit ihrer ganzen Sippe leben. Auf diese Weise wird ihnen möglich, noch
längere Zeit am Leben zu bleiben und am Ende eines natürlichen Todes zu
sterben, wogegen, wenn sie unter den Ihrigen verblieben wären, sie beim er¬
sten Anfall von Podagra oder Schwäche gefressen sein würde. In dieser
beschaulichen Zurückgezogenheit erreichen sie oft in Folge des guten Lebens,
der geregelten Gewohnheiten und der ungestörten Nachtruhe eine übernatür¬
liche Größe und Dicke, sowie ein hohes Alter, und erweisen sich als äußerst
kräftige und entschiedene Gegner gegen jedes Thier, dem in den Sinn kommen
sollte, sie anzugreifen. Neben ihrer auffallenden Entschlossenheit und Wildheit
bei Vertheidigung ihres Lebens besitzt die Ratte, trotz ihres schwachen und
verächtlichen Aeußern. Anlagen und Neigungen, welche sie zu schlimmen Fein¬
den auch des Menschen machen. Die mitternächtlichen Einbrüche und Dieb¬
stähle, die in London alltäglich ausgeführt werden, sinken in nichtssagende
Unbedeutendheit, verglichen mit den Zerstörungen der Cloakratten, die sich in
einer Woche auf einen höheren Werth belaufen, als die jährlichen Annecti-
rungen der Oontlömon ok tlnz nigin. Ihren Tribut, den sie von England,
besonders in London fordern, übertrifft noch die Communalabgaben und die


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[0189] veranlaßte sicherlich die Vorsehung, ihr Feinde auf allen Seiten zu schaffen, vom Menschen bis zum Reptil herab, um ihre Race in den gehörigen Schranken zu halten. Mit einem Wort, die arme Ratte, obgleich sie als Kloakenreiniger in London wie in Paris unschätzbare Dienste leistet, obgleich sie, gleich anderen Geschöpfen, unzweifelhaft eine Mission zu erfüllen und eine providentielle Nützlichkeit hat, findet nirgends auch nur ein Fünkchen von Sympathie: welch eine Welt von Händen, Klauen und Schnäbeln sind wider sie gekehrt! Sie wird verfolgt, wie Rom einen abtrünnigen Priester verfolgt, ohne Gnade, ohne Barmherzigkeit. Doch das Compensationssystem eristirt auch für die Ratte, wie für alle übrigen Creaturen. Umringt von Gefahren, stets auf dem (jul-vivo, sollte man meinen, daß sie ein Leben voll fieber¬ hafter Unruhe führe. Bewahre! Dieselbe Vorsehung, die ihr Zähne gegeben, ganz besonders geeignet für die Arbeit, welche sie zu vollbringen haben, hat ihr auch einen Charakter verliehen, in voller Harmonie mit ihrem Loose. Und sicherlich gibt es kein Thier, das ein sorgloseres, glücklicheres, indifferen¬ teres Aussehen hat, als die Ratte, wenn man sie aus der Ferne betrachtet. In der Gefahr legt sie eine wahrhaft unglaubliche Kaltblütigkeit an den Tag, gleichsam als wäre sie von dem Princip durchdrungen, uicht zu verzweifeln, so lange noch ein Fünkchen von Leben übrig ist: bei solchen Gelegenheiten entwickelt die Ratte einen hohen Grad von Schlauheit und bekundet einen an Vernunft grenzenden Instinkt. Eine ganz eigenthümliche Thatsache ist, daß männliche Ratten, wenn sie alt und verdrießlich werden, der Welt entsagen, sich in die Einsamkeit zurückziehen und in voller Feindschaft und Widerwillen mit ihrer ganzen Sippe leben. Auf diese Weise wird ihnen möglich, noch längere Zeit am Leben zu bleiben und am Ende eines natürlichen Todes zu sterben, wogegen, wenn sie unter den Ihrigen verblieben wären, sie beim er¬ sten Anfall von Podagra oder Schwäche gefressen sein würde. In dieser beschaulichen Zurückgezogenheit erreichen sie oft in Folge des guten Lebens, der geregelten Gewohnheiten und der ungestörten Nachtruhe eine übernatür¬ liche Größe und Dicke, sowie ein hohes Alter, und erweisen sich als äußerst kräftige und entschiedene Gegner gegen jedes Thier, dem in den Sinn kommen sollte, sie anzugreifen. Neben ihrer auffallenden Entschlossenheit und Wildheit bei Vertheidigung ihres Lebens besitzt die Ratte, trotz ihres schwachen und verächtlichen Aeußern. Anlagen und Neigungen, welche sie zu schlimmen Fein¬ den auch des Menschen machen. Die mitternächtlichen Einbrüche und Dieb¬ stähle, die in London alltäglich ausgeführt werden, sinken in nichtssagende Unbedeutendheit, verglichen mit den Zerstörungen der Cloakratten, die sich in einer Woche auf einen höheren Werth belaufen, als die jährlichen Annecti- rungen der Oontlömon ok tlnz nigin. Ihren Tribut, den sie von England, besonders in London fordern, übertrifft noch die Communalabgaben und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/189>, abgerufen am 05.02.2025.