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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Auch diese Ballade ist schon in der ältesten Fassung leichter, einfacher,
übersichtlicher und abgerundeter als Bürger's Lenore.

Die schönsten Balladen aber gehören erst der Weimarer Zeit an. Der
"Erlkönig", eine Arie des Singspiels "Die Fischerin", geht wieder direct auf
Herder'sche Anregung zurück. Selbst der Name wäre nicht ohne Herder;
denn einen Erlkönig gibt es in keiner Sage" (Grünne); aber Herder's "Stim¬
men der Völker" hatten aus dem dänischen "Ellerkonge" (Elbenkönig, Be¬
herrscher der Elbe) den Erlkönig gemacht.

Herder: Erlkönigs Tochter.


Herr Otus reitet spät und weit
Zu bieten auf seine Hochzcitlcut'.

Die Elfen locken ihn zum Tanzen; sie bieten ihm nach einander güldne
Sporen, ein feines, weißes Hemd von Seide, einen Haufen Goldes, und als
er sich weigert, denn frühmorgen ist sein Hochzeittag, schlägt ihn die Elfe
auf's Herz, tödtliche Krankheit wird folgen ihm.


Die Braut hob auf den Scharlach roth,
Da lag Herr Otus, und er war todt.

Bei Goethe nicht ein Bräutigam, sondern ein Kind, getödtet nicht wun¬
derbar von tückischer Eisensand, sondern von jenen unheimlichen natürlichen
Schauern, die die leicht beschwingte ängstliche Kinderphantasie in mehliger
Nacht im düstern Erlenwalde aus sich selbst erzeugt: der Mensch erdrückt von
den dunkeln Gefühlen, welche die Natur gegen Berechnung und Willen aus den
Tiefen seiner Seele plötzlich hervorbrechen läßt. Einmal personificiren sich die
dämonischen Kräfte zu lockenden Wasferweibern, dann zu Erlkönigs Töchtern.

Wie eignete sich dieser verschleierte, düstere, ahnungsreiche Inhalt zu dem
von Herder so schön beschriebenen Balladenton:


In anoioM times in IZritÄin Isto
LorZ Ilonr^ pas well Kilo^vue!

Und wie hat Goethe diesen Ton mit seinem eigenthümlichen, nur der
Empfindung zugänglichen clair-obscur getroffen! wie hineingelegt all das
"Unnennbare", das sonst nur mit dem Gesänge, wie Herder sagt, "strvmweis
in unsere Seele zieht", wie der musikalischen Composition dadurch vorgearbeitet,
wie dieselbe angereizt! Ueberall beherrscht diesen Menschen ohne Grübeln und
Rechnen das sicherste, weil völlig natürliche und ureigene poetische Formgefühl.
'

Herder hatte die Natur frei gemacht: welch Glück für Deutschlands
Lyrik, ja für Deutschlands Poesie überhaupt, daß sein erster Schüler eine
Natur besaß, so edel, fein und tief organisirt, so hinhängend nach idealer
Schönheit und ebenmäßiger Vollendung! So ward dann "an des Jahrhun¬
derts Neige" das höchste Ideal erreicht: innigste Verschmelzung und Durch¬
dringung von Freiheit und Gesetz, von Natur und Cultur, von originalen,


Auch diese Ballade ist schon in der ältesten Fassung leichter, einfacher,
übersichtlicher und abgerundeter als Bürger's Lenore.

Die schönsten Balladen aber gehören erst der Weimarer Zeit an. Der
„Erlkönig", eine Arie des Singspiels „Die Fischerin", geht wieder direct auf
Herder'sche Anregung zurück. Selbst der Name wäre nicht ohne Herder;
denn einen Erlkönig gibt es in keiner Sage" (Grünne); aber Herder's „Stim¬
men der Völker" hatten aus dem dänischen „Ellerkonge" (Elbenkönig, Be¬
herrscher der Elbe) den Erlkönig gemacht.

Herder: Erlkönigs Tochter.


Herr Otus reitet spät und weit
Zu bieten auf seine Hochzcitlcut'.

Die Elfen locken ihn zum Tanzen; sie bieten ihm nach einander güldne
Sporen, ein feines, weißes Hemd von Seide, einen Haufen Goldes, und als
er sich weigert, denn frühmorgen ist sein Hochzeittag, schlägt ihn die Elfe
auf's Herz, tödtliche Krankheit wird folgen ihm.


Die Braut hob auf den Scharlach roth,
Da lag Herr Otus, und er war todt.

Bei Goethe nicht ein Bräutigam, sondern ein Kind, getödtet nicht wun¬
derbar von tückischer Eisensand, sondern von jenen unheimlichen natürlichen
Schauern, die die leicht beschwingte ängstliche Kinderphantasie in mehliger
Nacht im düstern Erlenwalde aus sich selbst erzeugt: der Mensch erdrückt von
den dunkeln Gefühlen, welche die Natur gegen Berechnung und Willen aus den
Tiefen seiner Seele plötzlich hervorbrechen läßt. Einmal personificiren sich die
dämonischen Kräfte zu lockenden Wasferweibern, dann zu Erlkönigs Töchtern.

Wie eignete sich dieser verschleierte, düstere, ahnungsreiche Inhalt zu dem
von Herder so schön beschriebenen Balladenton:


In anoioM times in IZritÄin Isto
LorZ Ilonr^ pas well Kilo^vue!

Und wie hat Goethe diesen Ton mit seinem eigenthümlichen, nur der
Empfindung zugänglichen clair-obscur getroffen! wie hineingelegt all das
„Unnennbare", das sonst nur mit dem Gesänge, wie Herder sagt, „strvmweis
in unsere Seele zieht", wie der musikalischen Composition dadurch vorgearbeitet,
wie dieselbe angereizt! Ueberall beherrscht diesen Menschen ohne Grübeln und
Rechnen das sicherste, weil völlig natürliche und ureigene poetische Formgefühl.
'

Herder hatte die Natur frei gemacht: welch Glück für Deutschlands
Lyrik, ja für Deutschlands Poesie überhaupt, daß sein erster Schüler eine
Natur besaß, so edel, fein und tief organisirt, so hinhängend nach idealer
Schönheit und ebenmäßiger Vollendung! So ward dann „an des Jahrhun¬
derts Neige" das höchste Ideal erreicht: innigste Verschmelzung und Durch¬
dringung von Freiheit und Gesetz, von Natur und Cultur, von originalen,


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[0107] Auch diese Ballade ist schon in der ältesten Fassung leichter, einfacher, übersichtlicher und abgerundeter als Bürger's Lenore. Die schönsten Balladen aber gehören erst der Weimarer Zeit an. Der „Erlkönig", eine Arie des Singspiels „Die Fischerin", geht wieder direct auf Herder'sche Anregung zurück. Selbst der Name wäre nicht ohne Herder; denn einen Erlkönig gibt es in keiner Sage" (Grünne); aber Herder's „Stim¬ men der Völker" hatten aus dem dänischen „Ellerkonge" (Elbenkönig, Be¬ herrscher der Elbe) den Erlkönig gemacht. Herder: Erlkönigs Tochter. Herr Otus reitet spät und weit Zu bieten auf seine Hochzcitlcut'. Die Elfen locken ihn zum Tanzen; sie bieten ihm nach einander güldne Sporen, ein feines, weißes Hemd von Seide, einen Haufen Goldes, und als er sich weigert, denn frühmorgen ist sein Hochzeittag, schlägt ihn die Elfe auf's Herz, tödtliche Krankheit wird folgen ihm. Die Braut hob auf den Scharlach roth, Da lag Herr Otus, und er war todt. Bei Goethe nicht ein Bräutigam, sondern ein Kind, getödtet nicht wun¬ derbar von tückischer Eisensand, sondern von jenen unheimlichen natürlichen Schauern, die die leicht beschwingte ängstliche Kinderphantasie in mehliger Nacht im düstern Erlenwalde aus sich selbst erzeugt: der Mensch erdrückt von den dunkeln Gefühlen, welche die Natur gegen Berechnung und Willen aus den Tiefen seiner Seele plötzlich hervorbrechen läßt. Einmal personificiren sich die dämonischen Kräfte zu lockenden Wasferweibern, dann zu Erlkönigs Töchtern. Wie eignete sich dieser verschleierte, düstere, ahnungsreiche Inhalt zu dem von Herder so schön beschriebenen Balladenton: In anoioM times in IZritÄin Isto LorZ Ilonr^ pas well Kilo^vue! Und wie hat Goethe diesen Ton mit seinem eigenthümlichen, nur der Empfindung zugänglichen clair-obscur getroffen! wie hineingelegt all das „Unnennbare", das sonst nur mit dem Gesänge, wie Herder sagt, „strvmweis in unsere Seele zieht", wie der musikalischen Composition dadurch vorgearbeitet, wie dieselbe angereizt! Ueberall beherrscht diesen Menschen ohne Grübeln und Rechnen das sicherste, weil völlig natürliche und ureigene poetische Formgefühl. ' Herder hatte die Natur frei gemacht: welch Glück für Deutschlands Lyrik, ja für Deutschlands Poesie überhaupt, daß sein erster Schüler eine Natur besaß, so edel, fein und tief organisirt, so hinhängend nach idealer Schönheit und ebenmäßiger Vollendung! So ward dann „an des Jahrhun¬ derts Neige" das höchste Ideal erreicht: innigste Verschmelzung und Durch¬ dringung von Freiheit und Gesetz, von Natur und Cultur, von originalen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/107>, abgerufen am 05.02.2025.