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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Der hatt' ein armes Mädel jung
Gar oft in Arm genommen.
Und liebgekost und licbgeherzt,
Als Bräutigam herumgescherzt
Und endlich sie verlassen.

Es bricht dem "Mädchen" das Herz, wie Clavigo's Untreue Marien
tödtete. Die Erinnerung an Friederike klingt hier und dort quälend nach.


Die Stund', da sie verschieden war,
Wird bang dem Buben, graust sein Haar,
Es treibt ihn fort zu Pferde.
Er gab die Sporen kreuz und quer
Und ritt auf allen Seiten;
Herüber, hinüber, hin und her,
Kann keine Ruh erreiten;
Neit't sieben Tag' und sieben Nacht,
Es blitzt und donnert, stürmt und kracht,
Die Fluthen reißen über.

Er duckt sich unter "Gemäuerwerk, bindet's Pferd hauß' an"; die Erde
"erwühlt" sich unter ihm; "er stürzt wohl hundert Klafter." Er steht drei
Lichtlein schleichen; er "krabbelt nach"; sie "irrführen" ihn


Die Quer und Lang',
Trepp' auf, Trepp' ab, durch enge Gang'
Verfall'ne wüste Keller.
Auf einmal steht er hoch im Saal,
Sieht sitzen hundert Gäste,
Hohläugig, grinsen allzumal --

unten an sein "Schcitzel". mit weißen Tüchern angethan, die wend't sich. --

Der Bürger'sche Ton mit seinen populären Worten und Wendungen
läßt sich nicht verkennen; ohne die Lenore wäre auch diese Ballade nicht. Und
doch wieder, wie weit geht die Nachahmung über Borbild und Anregung
hinaus! Der wüste Abschluß der Lenore, wohl gar verbrämt mit einer "Mo¬
ral" widerstrebte dem Sinn, widerstrebte der Hand des Dichters; er schließt
ähnlich fein, bloß andeutend wie in seinem Haideröslein."

Und noch Eins: Wer sollte die Lenore singen? "Der untreue Knabe
wird in Claudine von Villa Bella von Crugantino zur Cither vorgetragen;
zum Singen ist auch der "König von Thule" bestimmt, der Februar 17?6
in der ältesten Faustbearbeitung dem singenden Gretchen so in den Mund
gelegt ward:


Es war ein König in Thule
Einen gold'nen Becher er hätt'
Empfangen von seiner Buhle
Auf ihrem Todesbett.

Der hatt' ein armes Mädel jung
Gar oft in Arm genommen.
Und liebgekost und licbgeherzt,
Als Bräutigam herumgescherzt
Und endlich sie verlassen.

Es bricht dem „Mädchen" das Herz, wie Clavigo's Untreue Marien
tödtete. Die Erinnerung an Friederike klingt hier und dort quälend nach.


Die Stund', da sie verschieden war,
Wird bang dem Buben, graust sein Haar,
Es treibt ihn fort zu Pferde.
Er gab die Sporen kreuz und quer
Und ritt auf allen Seiten;
Herüber, hinüber, hin und her,
Kann keine Ruh erreiten;
Neit't sieben Tag' und sieben Nacht,
Es blitzt und donnert, stürmt und kracht,
Die Fluthen reißen über.

Er duckt sich unter „Gemäuerwerk, bindet's Pferd hauß' an"; die Erde
„erwühlt" sich unter ihm; „er stürzt wohl hundert Klafter." Er steht drei
Lichtlein schleichen; er „krabbelt nach"; sie „irrführen" ihn


Die Quer und Lang',
Trepp' auf, Trepp' ab, durch enge Gang'
Verfall'ne wüste Keller.
Auf einmal steht er hoch im Saal,
Sieht sitzen hundert Gäste,
Hohläugig, grinsen allzumal —

unten an sein „Schcitzel". mit weißen Tüchern angethan, die wend't sich. —

Der Bürger'sche Ton mit seinen populären Worten und Wendungen
läßt sich nicht verkennen; ohne die Lenore wäre auch diese Ballade nicht. Und
doch wieder, wie weit geht die Nachahmung über Borbild und Anregung
hinaus! Der wüste Abschluß der Lenore, wohl gar verbrämt mit einer „Mo¬
ral" widerstrebte dem Sinn, widerstrebte der Hand des Dichters; er schließt
ähnlich fein, bloß andeutend wie in seinem Haideröslein."

Und noch Eins: Wer sollte die Lenore singen? „Der untreue Knabe
wird in Claudine von Villa Bella von Crugantino zur Cither vorgetragen;
zum Singen ist auch der „König von Thule" bestimmt, der Februar 17?6
in der ältesten Faustbearbeitung dem singenden Gretchen so in den Mund
gelegt ward:


Es war ein König in Thule
Einen gold'nen Becher er hätt'
Empfangen von seiner Buhle
Auf ihrem Todesbett.

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[0106] Der hatt' ein armes Mädel jung Gar oft in Arm genommen. Und liebgekost und licbgeherzt, Als Bräutigam herumgescherzt Und endlich sie verlassen. Es bricht dem „Mädchen" das Herz, wie Clavigo's Untreue Marien tödtete. Die Erinnerung an Friederike klingt hier und dort quälend nach. Die Stund', da sie verschieden war, Wird bang dem Buben, graust sein Haar, Es treibt ihn fort zu Pferde. Er gab die Sporen kreuz und quer Und ritt auf allen Seiten; Herüber, hinüber, hin und her, Kann keine Ruh erreiten; Neit't sieben Tag' und sieben Nacht, Es blitzt und donnert, stürmt und kracht, Die Fluthen reißen über. Er duckt sich unter „Gemäuerwerk, bindet's Pferd hauß' an"; die Erde „erwühlt" sich unter ihm; „er stürzt wohl hundert Klafter." Er steht drei Lichtlein schleichen; er „krabbelt nach"; sie „irrführen" ihn Die Quer und Lang', Trepp' auf, Trepp' ab, durch enge Gang' Verfall'ne wüste Keller. Auf einmal steht er hoch im Saal, Sieht sitzen hundert Gäste, Hohläugig, grinsen allzumal — unten an sein „Schcitzel". mit weißen Tüchern angethan, die wend't sich. — Der Bürger'sche Ton mit seinen populären Worten und Wendungen läßt sich nicht verkennen; ohne die Lenore wäre auch diese Ballade nicht. Und doch wieder, wie weit geht die Nachahmung über Borbild und Anregung hinaus! Der wüste Abschluß der Lenore, wohl gar verbrämt mit einer „Mo¬ ral" widerstrebte dem Sinn, widerstrebte der Hand des Dichters; er schließt ähnlich fein, bloß andeutend wie in seinem Haideröslein." Und noch Eins: Wer sollte die Lenore singen? „Der untreue Knabe wird in Claudine von Villa Bella von Crugantino zur Cither vorgetragen; zum Singen ist auch der „König von Thule" bestimmt, der Februar 17?6 in der ältesten Faustbearbeitung dem singenden Gretchen so in den Mund gelegt ward: Es war ein König in Thule Einen gold'nen Becher er hätt' Empfangen von seiner Buhle Auf ihrem Todesbett.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/106>, abgerufen am 05.02.2025.