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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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echt deutschem Inhalt und klassischer Form: da stand es in "edler, stolzer
Männlichkeit",

Das Jünglingszeitalter dieser neuen Poesie fällt in die Jahre 1770-- 75.
Kaum vergleichen läßt sich in den meisten Stücken der neue Geist mit dem
alten; wie durch plötzlichen Zauber brach er heraus; den Zauderst ab
schwang Herder, Goethe erfüllte voll und groß, was dieser ge¬
ahnt und gefordert hatte. Er gab uns schon in diesen ersten Jahren
eine Lyrik, die alles Vorhandengewesene überragte; ihr folgte allmälig eine
Blüthenpracht, die mit jedem Besten jeder Zeit und Zone den Vergleich nicht
zu scheuen braucht. Deutsche Lieder, deutsche Balladen, wer sagt sie nicht?
wer singt sie nicht? Sie sind unser Stolz und unsere Lust; jeder Fremde,
der sie zu verstehen vermag, bewundert sie; in alle gebildeten Sprachen sind
sie übersetzt: eine unendliche Fülle von Goethe bis Heine und Uhland herab;
ein unversiegbarer, unerschöpflicher Strom; Herder hatte das Gestein aufge¬
schlagen, den Fluch und Bann gelöst; sprudelnd ergoß sich der Quell in die
von ihm gewiesene Bahn.

Herder's Verdienst, man kann es nicht verkennen, ist ein bedeutendes;
Goethe verdankt ihm nahezu Alles, was einer genialen Naturkraft von außen
gegeben werden kann: Wegräumung aller störenden Hindernisse, Oeffnung,
Ehrung und Anweisung der richtigsten und bequemsten Wege. Er konnte es
nicht glücklicher treffen, als es ihm in Straßburg zu Theil ward. Ohne
mühsames Studium erhält er Aufschlüsse und Belehrungen der fruchtbarsten
Art fast in dem Moment, wo er danach die größte Sehnsucht tragen mußte,
wo er jedenfalls derselben am Meisten benöthigt war.

Unwillkürlich erinnert man sich einer Stelle in der Italienischen Reise,
wo der Berichterstatter einige ähnliche außerordentliche " Konstellationen" und
glückliche Zufälle erwähnt: Ich werde mich wohl noch in eine Prinzessin ver¬
lieben, um den Tasso, mich dem Teufel ergeben müssen, um den Faust zu
schreiben. "Denn bisher ist's so gegangen. Um mir selbst meinen Egmont
interessant zu machen, fing der Römische Kaiser mit den Brabantern Händel
an, und um meinen Open einen Grad von Vollkommenheit zu geben, kam
der Züricher Kayser nach Rom. Das heißt doch ein vornehmer Römer, wie
Herder sagt, und ich finde es recht lustig, eine Endursache der Handlungen
und Begebenheiten zu werden, welche gar nicht auf mich gerichtet sind. Das
darf man Glück nennen." Nie ist dem Glückskind ein Zufall gelegener ge¬
kommen, als die Bekanntschaft mit Herder in Straßburg. Kaum dürfte sich
ahnen lassen, was der Genius in selbstgenugsamer Jsolirung, was er ohne
Herder's und Bürger's Vorgang und Anregung in völligster Beschränkung
auf seine ureigenen Besitzthümer, was er etwa in der Zeit Opitzens oder
Gottsched's hätte leisten mögen.


echt deutschem Inhalt und klassischer Form: da stand es in „edler, stolzer
Männlichkeit",

Das Jünglingszeitalter dieser neuen Poesie fällt in die Jahre 1770— 75.
Kaum vergleichen läßt sich in den meisten Stücken der neue Geist mit dem
alten; wie durch plötzlichen Zauber brach er heraus; den Zauderst ab
schwang Herder, Goethe erfüllte voll und groß, was dieser ge¬
ahnt und gefordert hatte. Er gab uns schon in diesen ersten Jahren
eine Lyrik, die alles Vorhandengewesene überragte; ihr folgte allmälig eine
Blüthenpracht, die mit jedem Besten jeder Zeit und Zone den Vergleich nicht
zu scheuen braucht. Deutsche Lieder, deutsche Balladen, wer sagt sie nicht?
wer singt sie nicht? Sie sind unser Stolz und unsere Lust; jeder Fremde,
der sie zu verstehen vermag, bewundert sie; in alle gebildeten Sprachen sind
sie übersetzt: eine unendliche Fülle von Goethe bis Heine und Uhland herab;
ein unversiegbarer, unerschöpflicher Strom; Herder hatte das Gestein aufge¬
schlagen, den Fluch und Bann gelöst; sprudelnd ergoß sich der Quell in die
von ihm gewiesene Bahn.

Herder's Verdienst, man kann es nicht verkennen, ist ein bedeutendes;
Goethe verdankt ihm nahezu Alles, was einer genialen Naturkraft von außen
gegeben werden kann: Wegräumung aller störenden Hindernisse, Oeffnung,
Ehrung und Anweisung der richtigsten und bequemsten Wege. Er konnte es
nicht glücklicher treffen, als es ihm in Straßburg zu Theil ward. Ohne
mühsames Studium erhält er Aufschlüsse und Belehrungen der fruchtbarsten
Art fast in dem Moment, wo er danach die größte Sehnsucht tragen mußte,
wo er jedenfalls derselben am Meisten benöthigt war.

Unwillkürlich erinnert man sich einer Stelle in der Italienischen Reise,
wo der Berichterstatter einige ähnliche außerordentliche „ Konstellationen" und
glückliche Zufälle erwähnt: Ich werde mich wohl noch in eine Prinzessin ver¬
lieben, um den Tasso, mich dem Teufel ergeben müssen, um den Faust zu
schreiben. „Denn bisher ist's so gegangen. Um mir selbst meinen Egmont
interessant zu machen, fing der Römische Kaiser mit den Brabantern Händel
an, und um meinen Open einen Grad von Vollkommenheit zu geben, kam
der Züricher Kayser nach Rom. Das heißt doch ein vornehmer Römer, wie
Herder sagt, und ich finde es recht lustig, eine Endursache der Handlungen
und Begebenheiten zu werden, welche gar nicht auf mich gerichtet sind. Das
darf man Glück nennen." Nie ist dem Glückskind ein Zufall gelegener ge¬
kommen, als die Bekanntschaft mit Herder in Straßburg. Kaum dürfte sich
ahnen lassen, was der Genius in selbstgenugsamer Jsolirung, was er ohne
Herder's und Bürger's Vorgang und Anregung in völligster Beschränkung
auf seine ureigenen Besitzthümer, was er etwa in der Zeit Opitzens oder
Gottsched's hätte leisten mögen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/108>, abgerufen am 05.02.2025.