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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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In dem wogenden Meere leidenschaftlicher, aber meist im Verborgenen
wirkender Bestrebungen lassen sich drei Hauptströmungen unterscheiden: eine
bonapartistische, eine republikanische und eine socialistisch-communistische. Der
Bonapartismus, geächtet von der Regierung wie von der öffentlichen
Meinung, hatte scheinbar allen Boden im Volke verloren. Das liberale Bür-
gerthum stellte der Gloire der kaiserlichen Zeit die Opfer gegenüber, mit wel¬
chen die Weltherrschaft erkauft war und fand den Preis zu hoch für einen
Besitz, der sich als vergänglich erwiesen, für eine Macht, die an der Unfähig¬
keit, sich Grenzen zu setzen, zu Grunde gegangen war. Und es war nicht
bloß die erlittene materielle Einbuße, die man in Rechnung zog: tiefer noch
als die Geldopfer, für welche man sich einigermaßen durch Aussaugung der
geknechteten Völker entschädigt hatte, tiefer auch, als die Blutopfer, über
welche der französische Heroismus, wie die französische Frivolität sich immer
verhältnißmäßig leicht hinweggesetzt hat, zumal da die tonangebenden Klassen
gerade von diesem Opfer durch ein Blutgeld sich leicht befreien konnten: tiefer
also, als die Verluste an Geld und Menschenkräften empfand man jetzt in
der Erinnerung den bleiernen Druck, der unter Napoleon ertödtend auf allen
Geistern gelastet hatte. Napoleon hatte nicht nur im Staate jede Regung
der Unabhängigkeit, jeden Widerspruch gegen seinen Willen mit Gewalt nie¬
dergehalten, er hatte auch in der Literatur jede freie Bewegung, er hatte jede
Selbstständigkeit im künstlerischen Schaffen, jede Freiheit im Denken, jeden
Versuch, den Regelzwang der Classicität zu durchbrechen, mit dem argwöh¬
nischsten Hasse verfolgt: wie in der Politik forderte er auch in der Kunst und
Wissenschaft Uniformität, weil er sehr wohl sah, daß jedes Abweichen von
der Regel, gleichviel auf welchem Gebiete des Geisteslebens, ein Angriff auf
das Princip der in ihm verklärten Staatsgewalt sei. Trotz seiner Feindschaft
Hatten indessen schon während seiner Negierung die ersten Erzeugnisse einer
freieren Richtung (Chateaubriand, Frau von Staöl) die allgemeine Aufmerk¬
samkeit auf sich gelenkt, und unmittelbar nach dem Fall des Kaiserthums
begann jene lebhafte, schöpferische geistige Bewegung, welche, wenn auch von
den beschränkten Vertretern des ancien ivgimö mit Mißtrauen betrachtet, die
Restaurationszeit auszeichnet und derselben eine so bedeutende Stelle in der
französischen Literatur- und Kunstgeschichte angewiesen hat. Auf dem Ge¬
biete der Poesie führte die Romantik siegreich ihren Kampf wider die Classi¬
cität durch; auf wissenschaftlichem Boden vertiefte sich der Geist geschichtlicher
Forschung einerseits in die Anfänge des französischen Volks- und Staats¬
lebens, andererseits suchte er die Ereignisse und Ergebnisse der eben durch¬
lebten Periode gewaltigen Ringens tiefer zu ergründen, in geschmack¬
voller, fesselnder Form darzustellen (Mignet's berühmtes Werk erschien 1824)
und ihre grundlegende Gewalt für jede weitere Entwicklung nachzuweisen.


In dem wogenden Meere leidenschaftlicher, aber meist im Verborgenen
wirkender Bestrebungen lassen sich drei Hauptströmungen unterscheiden: eine
bonapartistische, eine republikanische und eine socialistisch-communistische. Der
Bonapartismus, geächtet von der Regierung wie von der öffentlichen
Meinung, hatte scheinbar allen Boden im Volke verloren. Das liberale Bür-
gerthum stellte der Gloire der kaiserlichen Zeit die Opfer gegenüber, mit wel¬
chen die Weltherrschaft erkauft war und fand den Preis zu hoch für einen
Besitz, der sich als vergänglich erwiesen, für eine Macht, die an der Unfähig¬
keit, sich Grenzen zu setzen, zu Grunde gegangen war. Und es war nicht
bloß die erlittene materielle Einbuße, die man in Rechnung zog: tiefer noch
als die Geldopfer, für welche man sich einigermaßen durch Aussaugung der
geknechteten Völker entschädigt hatte, tiefer auch, als die Blutopfer, über
welche der französische Heroismus, wie die französische Frivolität sich immer
verhältnißmäßig leicht hinweggesetzt hat, zumal da die tonangebenden Klassen
gerade von diesem Opfer durch ein Blutgeld sich leicht befreien konnten: tiefer
also, als die Verluste an Geld und Menschenkräften empfand man jetzt in
der Erinnerung den bleiernen Druck, der unter Napoleon ertödtend auf allen
Geistern gelastet hatte. Napoleon hatte nicht nur im Staate jede Regung
der Unabhängigkeit, jeden Widerspruch gegen seinen Willen mit Gewalt nie¬
dergehalten, er hatte auch in der Literatur jede freie Bewegung, er hatte jede
Selbstständigkeit im künstlerischen Schaffen, jede Freiheit im Denken, jeden
Versuch, den Regelzwang der Classicität zu durchbrechen, mit dem argwöh¬
nischsten Hasse verfolgt: wie in der Politik forderte er auch in der Kunst und
Wissenschaft Uniformität, weil er sehr wohl sah, daß jedes Abweichen von
der Regel, gleichviel auf welchem Gebiete des Geisteslebens, ein Angriff auf
das Princip der in ihm verklärten Staatsgewalt sei. Trotz seiner Feindschaft
Hatten indessen schon während seiner Negierung die ersten Erzeugnisse einer
freieren Richtung (Chateaubriand, Frau von Staöl) die allgemeine Aufmerk¬
samkeit auf sich gelenkt, und unmittelbar nach dem Fall des Kaiserthums
begann jene lebhafte, schöpferische geistige Bewegung, welche, wenn auch von
den beschränkten Vertretern des ancien ivgimö mit Mißtrauen betrachtet, die
Restaurationszeit auszeichnet und derselben eine so bedeutende Stelle in der
französischen Literatur- und Kunstgeschichte angewiesen hat. Auf dem Ge¬
biete der Poesie führte die Romantik siegreich ihren Kampf wider die Classi¬
cität durch; auf wissenschaftlichem Boden vertiefte sich der Geist geschichtlicher
Forschung einerseits in die Anfänge des französischen Volks- und Staats¬
lebens, andererseits suchte er die Ereignisse und Ergebnisse der eben durch¬
lebten Periode gewaltigen Ringens tiefer zu ergründen, in geschmack¬
voller, fesselnder Form darzustellen (Mignet's berühmtes Werk erschien 1824)
und ihre grundlegende Gewalt für jede weitere Entwicklung nachzuweisen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/95>, abgerufen am 24.07.2024.